Rolf Giesen: Sagenhafte Welten – Der phantastische Film. Heyne Filmbibliothek Band 140. Wilhelm Heyne Verlag München 1990. Mit einem Vorwort von Ray Harryhausen, zahlreichen schwarzweißen Abbildungen, einer Bibliografie und einem Index. Taschenbuch, 448 Seiten.
Rolf Giesen (geb. 1953) hat neben Georg Seeßlen, Ronald M. Hahn, Volker Jansen, Norbert Stresau und anderen die deutschsprachige Publizistik über den fantastischen Film in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren maßgeblich geprägt. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, Artikel und Rezensionen über das Science-Fiction-, Horror- und Fantasykino, die von großer Sachkenntnis zeugen. Seine enge Fühlung mit den Filmschaffenden Hollywoods ließ ihn eine Fülle von Informationen aus erster Hand gewinnen. Er traf eine beeindruckende Anzahl von Schauspielern, Regisseuren, Drehbuchautoren, Trickspezialisten und Produzenten, die er alle in einer langen Danksagung am Ende des Buchs auflistet – ohne Übertreibung ein Who is who des fantastischen Films.
Aus einigen dieser Bekanntschaften hatten sich Freundschaften entwickelt – unter anderem mit Ray Harryhausen (1920–2013), der zu vorliegendem Buch ein Vorwort beisteuerte. Der Altmeister der Stop-Motion-Tricktechnik beschwört als Zeitzeuge die Anfänge des fantastischen Films herauf und erzählt, wie er als Knirps mit seinen Eltern ins Kino gegangen war, um Harry O. Hoyts Die verlorene Welt (1925) und Fritz Langs Metropolis (1927) zu sehen. Später, mit 13 Jahren, sah er Merian C. Coopers und Ernest B. Shoedsacks King Kong (1933) auf der großen Leinwand und wurde von diesem Erlebnis tief beeindruckt. Dies waren die Filme, die Harryhausens lebenslange Liebe zum fantastischen Kino entfachten. Das Spannende ist, wie sehr der Leser sich mit diesen zeitlich fernen und doch so nachvollziehbaren Erfahrungen identifizieren kann – die kindliche Faszination und Begeisterung für das Wunderbare und Fantastische, ein Moment, das in der Science-Fiction-Filmkritik vielleicht etwas zu häufig aus dem Blickfeld gerät. Auch Rolf Giesen offenbart in seinem Buch sein kindliches Schlüsselerlebnis: Ray Harryhausens Sindbads 7. Reise (1958). „Dieses war der Film, der den Verfasser und mit ihm viele andere sehr junge Filmfans in aller Welt, unter ihnen John Landis, endgültig für das Kino gewann“ (S. 252).
Sagenhafte Welten ist ein lockerer, sehr unterhaltsamer Diskurs über den fantastischen Film, dessen Gliederung sich grob an den historischen Entwicklungslinien des Genres orientiert – von den Anfängen in der Stummfilmzeit über die Gruselfilme der Dreißiger und Vierziger, die goldene Science-Fiction-Film-Ära der Fünfziger, die Dystopien der Sechziger und Siebziger bis hin zum postmodernen Hedonismus und der teilweisen Brutalisierung der Horror- und Science-Fiction-Filme in den Achtzigern. Behandelt werden, dem Buchtitel gemäß, nicht nur Science-Fiction-, sondern auch Horrorfilme; Fantasyfilme erhalten daneben deutlich weniger Raum. Schließlich werden auch einige wenige Zeichentrickfilme wie Falsches Spiel um Roger Rabbit (1988) oder das Asterix-Abenteuer Operation Hinkelstein (1989) am Rande erörtert, eine Produktion, an der Rolf Giesen selbst beteiligt war.
Das Buch wirkt trotz der historischen Gliederung in der Wahl seiner thematischen Aspekte etwas unsystematisch und eklektisch; es ist eher eine engagierte, durch das Genrekino spazierende Plauderei als eine mit akademischer Strenge betriebene Darstellung. Hier und da beschäftigt sich Giesen mit der Interpretation der Filme und ihrer Relevanz fürs zeitgenössische Publikum. Im Mittelpunkt aber stehen die Produktionsgeschichten – handfeste Fakten zu den Studios und zu den Personen, die an den Filmen beteiligt waren, und Anekdoten, Schnipsel und Legenden, die Giesen aus eigenen Gesprächen und aus der Literatur zusammenträgt. Dabei führt Giesen aus, was ihm gerade erzählenswert und von hohem Unterhaltungswert erscheint, und lässt beieite, was ihn langweilt. Nicht immer trifft die Mischung die Vorlieben des Lesers – natürlich. Zum größten Teil aber ist das Buch mit hochinteressanten Informationen prall gefüllt und fesselt mit lebendigen Schilderungen. Ein Highlight ist beispielsweise Giesens persönliche Begegnung mit dem sonst so oft geschmähten Drehbuchautor Curt Siodmak (1902–2000), der als höchst angenehmer und geistreicher Mensch geschildert wird. Der plaudernden Haltung entspricht der leichtfüßige, manchmal saloppe Sprachstil – insgesamt ein sehr gelungenes Buch.
Beim Informationsgehalt ist, wie grundsätzlich bei allen älteren Büchern zum Thema, natürlich eine gewisse kritische Distanz erforderlich. Im Schrifttum über Filme kursieren etliche Legenden und Fehlinformationen, die sich oft erst Jahrzehnte später als falsch herausstellen. So findet sich beispielsweise auch hier noch die weit verbreitete Behauptung, dass Fritz Lang erst die Idee für seinen Film Metropolis gehabt habe, als er im Oktober 1924 auf einer Schiffsreise der Skyline von New York angesichtig wurde (S. 40) – eine Legende, die Fritz Lang einst selbst in die Welt gesetzt hatte, die sich jedoch inzwischen als nur die halbe Wahrheit herausgestellt hat. Es ist schade, dass Giesen ganz auf Fußnoten oder Verweise verzichtet, sodass nie klar ist, woher er seine wörtlichen Zitate oder Informationen nimmt. Das ist die gängige Praxis in den meisten Filmbüchern, durchaus, und dennoch bedauerlich für jeden, der sich weiterführend mit der Materie beschäftigen will.
An einigen Stellen lässt Giesens Sichtweise den heutigen Leser rückblickend schmunzeln. Über Giesens Polemik gegen den Einsatz der CGI im Film, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, ist die Zeit längst hinweggegangen: „Die Resultate [wirken] noch sehr künstlich, doch es könnte sein, daß eben dieser künstliche Schein von einer neuen Zuschauergeneration, die mehr den Androiden verwandt ist als den Anthropoiden, als Offenbarung einer neuen Wirklichkeit mißverstanden wird“ (S. 388). Dasselbe gilt für Giesens Klage über den Tod des klassischen Horrorfilms und überhaupt der „guten alten Zeit“, die stereotyp mit dem Lamento über die ach so verdorbene „Jugend von heute“ verknüpft ist:
Der Schauspieler Udo Kier [ . . . ] faßt auch meine Bedenken zusammen, wenn er meint, daß der klassische Horrorfilm tot sei. Heutzutage gehe es allein darum zu schockieren – in einer Perfektion, die ekelhaft sei. [ ... ] Die Jugend sei geradezu süchtig nach Brutalität, verständlich angesichts der hoffnungslosen Horrorwelt, in der wir leben, und verlange nach immer mehr Grausamkeit [ . . . ]. In seinen Warhol-Beiträgen habe es, auch wenn Dracula hin und wieder ein wenig Blut kotze, wenigstens einen Rest von Poesie gegeben: Damals erstanden um Mitternacht noch Gespenster – heute komme der Horror kalt und inhuman aus der Videothek. (Sagenhafte Welten, S. 416)
Über 20 Jahre später ist das Abendland noch immer nicht untergegangen, und sowohl der Science-Fiction- als auch der Horrorfilm erfreuen sich trotz alles beherrschender CGI-Tricktechnik und immer härterer Splatterorgien noch immer bester Gesundheit. Nun kann ich persönlich Giesens entschiedene Ablehnung blutiger Schlachtplatten durchaus nachvollziehen – ich selbst bin auch kein Freund von ihnen und bedaure, dass das Splattergenre in Serien und Krimis inzwischen die ganz normale TV-Abendunterhaltung erreicht hat. In dieser Hinsicht ist die immer weiter fortschreitende Abstumpfung des Publikums nicht zu leugnen.
Trotzdem muss es auch schon anno 1990 peinlich berührt haben, wie weit sich Giesen polemisch geifernd gegen David Cronenberg aus dem Fenster lehnt (S. 308–316). Giesen nimmt hier Bezug auf seine vernichtende Kritik von Cronenbergs Die Fliege (1986), die er bereits im Februar 1987 im tip-Magazin veröffentlichte. Die Fliege, fraglos ein anerkannter Meilenstein des Genres, ließ Giesen damals „speiübel“ werden. Er zeiht Cronenberg, mit dem er ein langes Interview geführt hat, einer „krankhaften Phantasie“, nennt ihn „Muttersöhnchen“ und vermutet hinter der harmlos-spießigen Erscheinung ein sadistisches Monster wie Adolf Eichmann oder Heinrich Himmler. Wenn Giesen daran anschließend einige wütende Reaktionen auf seinen tip-Artikel zitiert, will er dem Leser damit eine ausgewogene Diskussion seiner Sichtweise nur vorgaukeln – tatsächlich pflügt er mit derselben polemischen Methode über diese Kritik hinweg. Wieder einmal stirbt das Abendland: So sind Giesen zum Beispiel die viel schlimmeren blutigen Horrorszenarien von realen Unfallopfern in realen Krankenhäusern, von denen eine Ärztin ihm berichtet hat, „rebarbarisierte Randzonen der maroden Überflußgesellschaft“ (S. 315). Au weia.
Auch der Science-Fiction-Film abseits aller Horrorexzesse hat in Giesens Buch einen – fast zu erwartenden – schweren Stand. Man wird reichlich mit dem üblichen Spott gegen all die vielen Gurken und miesen Machwerke des Genres versorgt, und es fehlt auch nicht das gebetsmühlenartige Lamento über jüngere Science-Fiction-Filme, die gegen die liebgewonnenen Klassiker der Kindheit nur verlieren können: „Science-fiktionäre Bruchlandungen allerorten“ (S. 388). Interessanterweise hält Giesen offenbar auch nicht viel von Stanley Kubricks gefeiertem 2001: Odyssee im Weltraum (1968), in dem er kaum mehr als einen Werbeclip sieht, „ein überdimensionales Commercial, das auf seine Art tatsächlich für die futuristischen Ziele und Projekte einer ganzen Phalanx von Firmen und Institutionen warb: Bell Telephone Laboratories, Inc., Boeing Company, Chrysler Corp., Douglas Aircraft Co., Pan American World Airlines usw. usf.“ (S. 321). Das Buch schließt mit der Diskussion des in den Münchner Bavariastudios entstandenen Fantasyfilms Die unendliche Geschichte (1984) und einer patriotischen Hoffnung von Dieter Geissler (geb. 1939), einem der Produzenten des Films. Geissler erhoffte sich damals mit Die unendliche Geschichte ein Wiederanknüpfen an die große Zeit des deutschen utopischen Kinos der Zwanzigerjahre. Daraus wurde bekanntlich nichts, aber wer weiß, was die Zukunft noch bringt?
Trotz kleinerer sachlicher Unschärfen (wo gibt es die nicht?), mäandernden Flusses und gelegentlicher Polemik ist Sagenhafte Welten ein höchst unterhaltsames Buch über den fantastischen Film, das mit vielen Informationen aus erster Hand eines wirklichen Kenners der Filmszene begeistert. Noch immer lesenswert!
© Michael Haul
Veröffentlicht auf Astron Alpha am 25. Januar 2017