Helga Abret/Lucian Boia: Das Jahrhundert der Marsianer

Buchcover von Helga Abret/Lucian Boia, "Das Jahrhundert der Marsianer" (München 1984)

Helga Abret und Lucian Boia: Das Jahrhundert der Marsianer. Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Viking-Sonden 1976. Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur Band 32 (Wilhelm Heyne Verlag München 1984).

 

Science-Fiction-Sachbuch. Mit zahlreichen Abbildungen und zwei farbigen Bildteilen. Taschenbuch, 368 Seiten.

 

Die „kleinen grünen Männchen vom Mars“ – die Sprichwörtlichkeit dieses Völkchens illustriert, welch herausragende Rolle der Mars in der modernen Science-Fiction-Literatur seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert gespielt hat. Immer wieder bevölkerten Autoren unseren roten Nachbarplaneten mit Marsianern aller Art; der Mars bereitete die Bühne für unzählige Erzählungen, Romane und Filme. Wer sich intensiver mit diesen Werken beschäftigt, wird über zahlreiche wiederkehrende Motive und Klischees stolpern. Doch woher kommen eigentlich all diese Klischees? Wo und wie sind sie entstanden? Wieso wurde der Mars zum Beispiel stets als alte, „sterbende“ oder bereits „gestorbene“ Welt vor­ge­stellt? Wie sind die „kleinen grünen Männchen“ zu ihren Antennen und zu ihrer grünen Haut gekommen? Und weshalb ist es überhaupt der Mars, auf den sich die Faszination der Science-Fiction-Autoren so lange konzentriert hatte? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, der sollte zu diesem hervorragenden Buch greifen.

 

Die Literaturwissenschaftler Helga Abret (1939–2013) und Lucian Boia (geb. 1944) haben sich in ihrem Buch der Aufgabe gewidmet, dem modernen „Marsmythos“ in der Science-Fiction-Literatur nachzuspüren. Sie sind tief – bewunderns­wert tief – in die Anfänge des Genres eingetaucht und haben zahllose Marsromane und Marserzählungen gelesen. Die meisten dieser Werke sind seit vielen Jahrzehnten längst vergessen und im Orkus der Unterhaltungsliteratur ver­schwun­den. So war erst einmal eine beachtliche literararchäologische Leistung zu vollbringen. Die Romane und Erzäh­lun­gen mussten aufgespürt und dann beschafft werden – zumeist in den alten Originalausgaben, da die allermeisten Werke nie eine zweite Auflage oder einen Reprint erfahren haben. Die Mühe hat sich gelohnt: Was die Autoren zutage gefördert haben, sind zum Teil wahre Juwelen, die vor Fantasie, Witz und Überraschungen funkeln. Nicht mit ein­be­zo­gen in die Darstellung sind Science-Fiction-Filme, für die sich das reich bebilderte, 2003 erschienene Buch Marsfieber von Rainer Eisfeld/Wolfgang Jeschke als ersten Überblick heranziehen ließe.

 

Abret und Boia bieten in ihrem Buch einen streng chronologisch aufgebauten Überblick über die Marsliteratur. Im Vor­dergrund steht die Darstellung der Werke selbst, die erst in einem zweiten, zusammenfassenden Schritt eingeordnet werden. Die Einordnung beschränkt sich dabei auf die markantesten inhaltlichen Punkte und ist nicht mit theo­re­ti­schen Erwägungen belastet. Die literarische Qualität der Werke interessiert nur am Rande – sie ist ohnehin nur selten herausragend. Doch Abret und Boia zürnen nicht aus von ihrem Elfenbeinturm herab gegen vermeintlich trivialen Schund. Sie lieben die Unterhaltungsliteratur, die sie beschreiben, und sind mit spürbarer Begeisterung bei der Sache.

 

Gegliedert wird das Material nach Epochen, die sich durch markante Einschnitte und Veränderungen innerhalb des Materials ergeben. Nacheinander werden die Werke vorgestellt. Jeder vorgestellte Roman wird inhaltlich referiert, wobei besonderes Augenmerk auf die Präsentation der spezifischen Science-Fiction-Elemente gelegt wird: Mit wel­chen Mitteln wird die Reise vom oder zum Mars bewältigt? Wie wird der Mars fabuliert? Und vor allem: Wie sehen die Marsianer aus, welche Eigenschaften haben sie, und wie werden sie charakterisiert?

 

Die Kapiteleinleitungen und Schlussworte fassen in regelmäßigen Abständen die Beobachtungen zur Darstellung des Mars’, der Marsianer und ihrer Beziehungen zur Erde zusammen, ordnen sie historisch ein und zeigen Tendenzen und Entwicklungslinien auf.

 

Der Mars im Wechselspiel zwischen Astronomie und Literatur

 

Das erste Kapitel behandelt „die Vorgeschichte der Marsianer“ von ihrem ersten Erscheinen in der Literatur in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1686 spekuliert Bernard le Bovier de Fontanelle (1657–1757) in seinen damals weit verbreiteten Entrétiens sur la pluralité des mondes über eine phosphoriszierende Marslandschaft, die vielleicht von selbstleuchtenden Vögeln belebt ist. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich das bescheidene Genre des „Planetenromans“, das von fantastischen Reisen zu den bekannten Planeten des Sonnen­systems erzählt und dabei auch den Mars nicht ausspart. Ein Vertreter ist z. B. das 1752 erscheinende Werk Micromégas von Voltaire (1694–1778). Der Mars nimmt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch noch keine prominente Stellung innerhalb dieser frühen, aufklärerisch geprägten Science-Fiction-Literatur ein. Diese gewinnt er erst durch die Erkennt­nis­se der modernen Astronomie, die dem Mars neben der Erde eine außerordentliche Stellung im Sonnensystem zu­schrieben.

 

Im zweiten Kapitel erörtern die Autoren das wissenschaftliche Bild vom Mars, das die Astronomen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zeichneten. Und sie machen deutlich, wie ungeheuer einflussreich die astronomischen Erkenntnisse und Hypothesen auf die Science-Fiction-Autoren in jener Zeit gewesen waren. Seit 1850 hatte das astronomische In­teresse am Mars sprunghaft zugenommen. 1877 schließlich war ein folgenreiches Jahr für die wissenschaftliche Dis­kus­sion um den Mars. In diesem Jahr entdeckte der amerikanische Astronom Asaph Hall (1829–1907) die beiden Mars­mon­de Phobos und Deimos. Wesentlich folgenreicher aber war die Sensation, die ein italienischer Fachgenosse 1877 ver­öf­fent­lich­te: Giovanni Virginio Schiaparelli (1835–1910) behauptete, durch das Teleskop canali auf dem Mars gesehen zu haben. Der Begriff canali, der eigentlich nur „Gräben“ oder „Rinnen“ bezeichnet, wurde sofort weltweit als „Kanäle“ missverstanden, ein Wort, das die Künstlichkeit dieser Gräben und Rinnen impliziert. Lieferten Schiaparellis Beob­ach­tun­gen also den Beweis für intelligente Marsbewohner? In diesem Sinne wurden sie nur zu gern von euphorischen Wissenschaftlern, einer sensationsliebenden Presse und von Science-Fiction-Autoren verstanden.

 

Der amerikanische Astronom Percival Lowell (1855–1916) wurde seit Mitte der 1890er Jahre zum entschiedensten und einflussreichsten Fürsprecher der künstlich geschaffenen Marskanäle. Er veröffentlichte Globen und Karten, auf denen ein zigtausend Kilometer langes, dichtes, geradlinig gezeichnetes Kanalnetz den gesamten Mars umspannte. In seinen außerordentlich populären Marsabhandlungen formulierte er weitreichende Hypothesen, die die Erbauer dieser Ka­nä­le betrafen. Die Marskanäle wurden zu einem heiß diskutierten Thema innerhalb und außerhalb der Astronomie. Zwar hatte es schon damals zahlreiche skeptische Wissenschaftler gegeben, die Lowells Hypothesen entschieden ablehn­ten. Das nüchternere, unspektakuläre Bild vom Mars, das sie favorisierten, hatte jedoch gegen Lowells romantische Visionen kaum eine Chance, in der Öffentlichkeit auf eine ähnlich große Resonanz zu stoßen.

 

Es waren vor allem Lowells Bücher und Artikel – vielfach im Rückgriff auf Schriften des einflussreichen französischen Astronomen Camille Flammarion (1842–1925) –, die die Popularität der Marskanäle beförderten. Daneben verankerten sie noch ein anderes, sehr hartnäckiges Klischee vom roten Planeten in der Wissenschaft und in der Science-Fiction: das Bild vom „sterbenden Mars“.

 

Messungen hatten ergeben, dass die Marsatmosphäre sehr dünn und die Marsoberfläche ziemlich kühl sein musste. Von riesigen Wüstengebieten war die Forschung schon länger ausgegangen. Aus diesen Daten entwickelte Lowell ein erstaunlich scharfsinniges, in sich stimmiges Bild vom Mars, das von durchschlagender Überzeugungskraft war. Der Mars war Lowell zufolge eine alte Welt, älter als die Erde, und stellte damit vor Augen, welchen Weg unser eigener Planet in der Zukunft vermutlich noch gehen würde. Lowell implizierte, dass belebte, wasserreiche Planeten mit zu­neh­mendem Alter quasi langsam „verdimmen“. Der Mars war über die Zeiten immer mehr ausgetrocknet und klima­tisch unwirtlich geworden, was die riesigen Wüstengebiete erklärte. Die Marsianer aber, uns Menschen aufgrund ihrer längeren Entwicklungsspanne geistig und technologisch weit überlegen, hatten Abhilfe geschaffen: Sie hatten ihre nationalen und kleinlichen Streitigkeiten überwunden und sich zu einer planetarischen Solidargemeinschaft zusam­men­ge­schlossen, um gemeinsam den Bau des gewaltigen Kanalnetzes zu bewältigen. Die Kanäle leiteten die letzten Wasserreserven von den marsianischen Polkappen in die vertrockneten Regionen am Äquator und sicherten so das Überleben der Marsianer.

 

Die bürgerliche Blütezeit des Marsmythos

 

Lowells Vision vom Mars elektrisierte, wobei es nicht verwundert, dass sie den Zeitgeist der Belle Époque ansprach. Sie enthielt eine gewisse pathetische Tragik – der Mars lag unerbittlich im Sterben –, aber auch einen kühnen Opti­mis­mus, was das Entwicklungspotenzial der menschlichen Spezies betraf. Die Marsianer hatten alle hochfahrenden Träu­me der bildungsbürgerlich geprägten Gesellschaft von einer technologischen und vor allem moralisch-weisheitlichen Vervollkommnung der Zivilisation bereits erfüllt, und sie verhießen der Menschheit denselben aufstrebenden Weg.

 

Das „goldene Zeitalter der Marsianer“ – so der Titel des dritten Kapitels – beginnt in den 1860er Jahren, als die Werke von Jules Verne (1828–1905) die Anfänge der modernen Science-Fiction anbahnten. Von da an bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, als die „gute alte Zeit“ der optimistischen bürgerlichen Kultur unwiederbringlich in Scherben fiel, erlebte die Marsliteratur eine wahre Blütezeit. Aus dieser Epoche stammen auch die meisten Werke, die von Abret und Boia vorgestellt werden. Die berühmtesten Marsromane jener Zeit, die auch heute noch gelesen werden, sind das monu­men­tale Werk Auf zwei Planeten (1897) vom deutschen Science-Fiction-Pionier Kurd Laßwitz (1848–1910), der hinter­sin­nige Roman The War of the Worlds (1897) des Engländers Herbert George Wells (1866–1946) und die ab 1912 publizier­ten abenteuerlichen John-Carter-Marsromane des US-Amerikaners Edgar Rice Burroughs (1875–1950), die mit Under the Moons of Mars begannen. Doch Abret und Boia beschäftigen sich auch mit zahlreichen anderen Autoren dieser Zeit – bekanntere wie Camille Flammarion, Guy de Maupassant (1850–1893), Konstantin Ziolkowski (1857–1935), und weniger bekannte wie Percy Greg (1836–1889), Georges Le Faure (1856–1953) und Henri de Graffigny (1863–1942), Wal­demar Schilling oder Gustave Le Rouge (1867–1938) –, die zum Teil überaus interessante und fantasievolle Mars­romane geschrieben haben.

 

Es begegnen viele originelle Ideen, die bis heute in der Science-Fiction-Literatur weiterleben. Beispielsweise führt die vorausgesetzte höhere geistige Entwicklung der Marsianer zur Vorstellung enorm entwickelter Gehirne. Die bekann­tes­te Inkarnation dieser Vorstellung sind die Marsianer in Wells’ The War of the Worlds: Wesen, die fast nur noch aus ihren Köpfen bestehen und deren restlicher Körper degeneriert ist. Im zweiteiligen Roman Le Prisonnier de la planète Mars und La Guerre des Vampires (1908/09) von Gustave Le Rouge, der eine blühend fantastische marsianische Welt kreiert, wird die Idee bis in ein gigantisches Gehirn gesteigert, das so groß wie ein Gebirge ist und telepathisch den gesamten Planeten kontrolliert.

 

Neue Strömungen nach dem Ersten Weltkrieg

 

Nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg gelten alle alten Gewissheiten nicht mehr, und ein zweifelnder Kulturpes­si­mis­mus löst den alten, hochfahrenden Fortschrittsglauben ab: „Schwere Zeiten für die Marsianer“ – so lautet das vierte Kapitel. Zum einen leben die traditionellen Ideen über die Marsianer unverändert fort – so beispielsweise in Burroughs’ Marsabenteuer des heldenhaften John Carter. Daneben treten Autoren auf, die die „alten“ Marsianer für Allegorien auf gesellschaftlich-politische Problemlagen und Ideologien nutzen – das bedeutendste Beispiel hierfür ist der Roman Aelita (1922/23) von Alexei Tolstoi (1883–1945). Andere Autoren verfallen dagegen erstmals auf die Idee, dass die Mar­sia­ner so radikal andersartig als die Menschen sein könnten, dass nicht einmal eine Kommunikation zwischen beiden Spezies ohne Weiteres möglich ist. Sie kreieren erstaunliche Spekulationen. In Les navigateurs de l’infini (1925) von J. H. Rosny Aîné (1856–1940) sind die Marsianer bizarre dreibeinige Wesen; in The Last and First Man (1930) von Olaf Staple­don (1886–1950) gleichen sie sogar nur amorphen Wölkchen, die sich in einer großen Wolke zu einem ganzheitlichen Wesen zusammenschließen können. Bemerkenswert ist auch A Martian Odyssey (1934) von Stanley G. Weinbaum (1902–1935): Sein straußenähnlicher Marsianer Tweel hat frappierende Ähnlichkeit mit dem Puppenspieler Nessus aus Larry Nivens Ringwelt (1970).

 

Die atmosphärisch vortreffliche Erzählung Shambleau (1930) von Catherine Lucille Moore (1911–1987) verdient beson­de­re Erwähnung. Moores Marsianerin ist eine sexuell gefährliche, schlangenhäuptige Medusa. Schließlich finden sich neben diesen einfallsreichen Werken auch ideologisch gefärbte, propagandistische Marsromane, z. B. von dem Deut­schen Titus Taeschner (1905–1997) oder dem Franzosen Marcel Priollet (1884–1960).

 

Einen längeren Abschnitt widmen Abret und Boia dem wohl folgenschwersten „Eingreifen“ der literarischen Marsianer in die reale Welt: dem berühmten Radio-Hörspiel The War of the Worlds von Orson Welles (1915–1985) nach dem Ro­man von H. G. Wells, das zu Halloween 1938 an Amerikas Ostküste ausgestrahlt wurde. In New York und New Jersey, den Gegenden, die vermeintlich von den Marsianern angegriffen wurden, löste das Hörspiel bei Tausenden von Men­schen Angst und Schrecken aus. Abret und Boia erläutern, wie der realistische Stil des Hörspiels diese Reaktionen be­günstigen konnte, und zitieren ausführlich die zeitgenössischen Zeitungsberichte über die Geschehnisse. Wie bei vie­len massenmedialen Ereignissen, so haben sich auch über Welles’ Hörspiel von 1938 längst Verschwörungstheorien gebildet, die vehement bestreiten, dass es überhaupt eine nennenswerte Reaktion der damaligen Radiohörer gegeben habe. Gewiss sind manchmal zu lesende Behauptungen, dass Tausende oder gar Millionen von Amerikanern kopflos aus den Städten geflohen wären, maßlos übertrieben. Überhaupt beschränkte sich die „Panik“ weitgehend auf besorg­te Anrufe der Bürger bei den Behörden und darauf, dass die Menschen die Häuser verließen und sich verwundert und beunruhigt in den Straßen zusammenscharten. Vor dem Hintergrund späterer Überzeichnungen wirken die zeitgenös­si­schen Zeitungsberichte im Großen und Ganzen doch ziemlich nüchtern und präzise beschreibend; sie sind keines­wegs reißerisch übertrieben, sodass sich ein gutes Bild von den Ereignissen rekonstruieren lässt. Der 31. Oktober 1938 ist jedenfalls der Tag, an dem es die fiktiven Marsianer zum ersten Mal nachhaltige Furore auf den Titelblättern der Zeitungen machten.

 

Das langsame Verlöschen der Marsromantik nach dem Zweiten Weltkrieg

 

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist gekennzeichnet vom „Tod und [der] Auferstehung der Marsianer“ (Kapitel fünf). Diese Epoche behandeln Abret und Boia nur kursorisch, wobei sie lediglich die wichtigsten Werke in den Blick nehmen. Zum einen hängt dies mit dem stärkeren Interesse der Autoren für die früheren Epochen der Marsliteratur zusammen. Zum anderen schwillt in der Nachkriegszeit die Masse publizierter Science-Fiction-Literatur enorm an. Das uferlose Meer der Veröffentlichungen kann niemand mehr mit dem Anspruch annähernder Vollständigkeit überbli­cken.

 

Die Marsliteratur der Nachkriegszeit ist vor allem von der Verabschiedung der romantischen Vorstellungen vom Mars gekennzeichnet. Die Wissenschaft hat bis zum Beginn der Fünfzigerjahre durch verbesserte Beobachtungen ihr Bild vom roten Planeten wesentlich präzisiert. Die Atmosphäre ist noch viel dünner als bislang ohnehin schon vermutet und enthält fast keinen Sauerstoff. Die Durchschnittstemperaturen sind mit –20 bis –30 Grad Celsius alles andere als gemäßigt. Man beobachtet große Wüstengebiete und Staubstürme; für die Marskanäle oder gar marsianisches Leben fehlen dagegen jegliche Beweise. Im Verlauf der Jahrzehnte werden die Erwartungen der Forscher in Hinblick auf die Entdeckung von marsianischem Leben immer bescheidener. Die Wissenschaftler, die 1976 die Raumsonden Viking 1 und Viking 2 auf dem Mars landen lassen, rechnen allenfalls noch mit winzigen Mikroben oder Bakterien. Doch auch die Hoffnung, mikroskopisches Leben auf dem Mars nachzuweisen, werden von den beiden Sonden enttäuscht.

 

Die Science-Fiction-Autoren tragen den neuen Erkenntnissen Rechnung, wenn auch mit leichten Verzögerungen. Die Romane erzählen bis in die Sechzigerjahre hinein teilweise noch immer von blühendem Marsleben oder sogar Mars­zivilisationen. Manche sind in traditionellem Sinne Utopien wie z. B. Sands of Mars (1951) von Arthur C. Clarke (1917 –2008). Andere sind eher allegorisch aufzufassen und reflektieren stärker die irdische als die marsianische Gesellschaft wie die Mars-Chroniken (1950) von Ray Bradbury (1920–2012) oder Stranger in A Strange Land (1961) von Robert A. Heinlein (1907–1988). Dort, wo die Autoren die Leblosigkeit des Mars akzeptiert haben, erzählen sie stattdessen vom kühnen Unterfangen irdischer Astronauten, die sich auf den Weg machen, um den roten Planeten für die Menschheit zu erobern – so z. B. in Menschen zwischen den Planeten (1953) von Franz L. Neher (1896–1970). Die Menschen werden selbst zu Marsianern.

 

Das Jahrhundert der Marsianer ist eine überaus interessante und lebendig geschriebene Abhandlung über die viel­fäl­tige Geschichte des „Marsmythos“ in der Science-Fiction-Literatur. Gerade die Konzentration auf die Inhalte, insbeson­de­re die Science-Fiction-Elemente der Werke, und der weitgehende Verzicht auf weitschweifige theoretische Ana­ly­sen und Erörterungen macht die Lektüre des Buches für jeden Science-Fiction-Freund zu einem erfrischenden Genuss. Das Buch lotet die Tiefen einer vergessenen Vorkriegsliteratur aus, stellt sie präzise und umfassend dar und wird so zu einem unschätzbaren Kompendium. Der größte Gewinn des Buches liegt vielleicht darin, dass es die Neugier auf all diese alten Romane und Erzählungen schürt. Es lädt den Leser ein, das eine oder andere Werk einfach einmal zu lesen – insbesondere, da die Beschaffung dieser alten Bücher in Zeiten des Internet wesentlich leichter geworden ist.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 9. April 2016