Náufragos – Gestrandet

Náufragos (Spanien 2001)

 

Regie: María Lidón

Drehbuch: Juan Miguel Aguilera

Darsteller: María Lidón (Susana Sánchez), Maria de Medeiros (Jenny Johnson), Vincent Gallo (Luca Baglioni), Joaquim de Almeida (Fidel Rodrigo), Danel Aser (Herbert Sagan), Johnny Ramone (Lowell), José Sancho (Andre Vishniac), Paul Gibert (TV-Moderator)

Produzenten: José Magán; José Lopez, Stefan Nicoll (assoziierte Produzenten) Companies: Niggeman IndieFilms S.L.; Dolores Pictures; Guerilla Films

Laufzeit: 95 Min.; Farbe

Premiere: 24. September 2001 (Spanien); 2. Dezember 2003 (Deutschland, DVD-Premiere)

 

Im Jahre 2019 fliegt die erste bemannte Mission zum Mars und tritt nach 298 Tagen in eine Umlaufbahn um den roten Planeten ein. Von den sieben Crewmitgliedern fliegen sechs – zwei Frauen und vier Männer – mit einem Landemodul zur Planetenoberfläche hinab, ein Astronaut bleibt im Raumschiff. Doch die Mission wird ein Desaster: Ein Aussetzer aller Systeme führt zum unkontrollierten Absturz des Landemoduls, bei dem der Kommandant ums Leben kommt. Die fünf Überlebenden sind unversehrt und auch die Kabine des Landers trug keine größeren Schäden davon. Da aber die Antriebssysteme des Landers beim Aufprall zerstört wurden, gibt es für die Überlebenden keine Möglichkeit, zum Mutterschiff im Marsorbit zurückzukehren. Sie sitzen in der endlos weiten Marswüste fest.

 

Das Mutterschiff im Orbit hat keine Möglichkeiten zu helfen – und bricht daher bereits Tage später die zur Rückreise zur Erde auf. Da eine Rettungsmission bestenfalls in zweieinhalb Jahren den Mars erreichen könnte, sieht die Lage für die Gestrandeten hoffnungslos aus. Der Ingenieur Luca rechnet vor, dass Wasser, Sauerstoff, Nahrung und Energie allenfalls ein Jahr ausreichen würden – es sei denn, dass nicht fünf, sondern nur zwei Menschen an Bord des Landers blieben. Die neue Kommandantin Susana trifft daraufhin eine schwere Entscheidung und benennt drei Crewmitglie­der – einschließlich sich selbst –, die den Lander in Druckanzügen verlassen und „einen langen Spaziergang“ machen sollen. Schweren Herzens fügen sich Fidel und Herbert, die auf diese Weise zum verfrühten Tode verurteilt worden sind, in ihr Schicksal.

 

Am nächsten Tag begeben sich die drei auf einen langen Marsch zur Abbruchkante des nahe gelegenen Vallis Marine­ris, um in ihren letzten Stunden noch etwas Sinnvolles zur Mission beizutragen und Videoaufnahmen vom Tal zu ma­chen. Unterwegs stirbt Herbert an Sauerstoffmangel. Am Talrand angekommen, entdecken Susana und Fidel einen seltsamen Dunst am Talgrund und beschließen, ins Tal hinabzusteigen. In einem ausgedehnten, künstlich angelegten Höhlensystem stoßen sie auf die Wandreliefs einer vor Jahrmillionen untergegangenen Marszivilisation – und die versteinerten Mumien der letzten Marsianer . . .

 

Aufregender Mars

 

In den Jahren um die Jahrtausendwende war der Mars schwer en vogue. 1997 hatte die NASA die Raumsonde Path­finder samt dem kleinen Rover Sojourner auf dem roten Planeten gelandet und mit sensationellen, über das Internet verbreiteten Fotos von der Geröllwüste rund um die Landestelle weltweit die Fantasie der Menschen beflügelt. Auch Hollywood reagierte auf den entfachten Marsrummel und brachte gleich drei Marsfilme ins Kino: Mission to Mars (2000) von Brian de Palma, Red Planet (2000) von Anthony Hoffman und Ghosts of Mars (2001) von John Carpenter. Die Marsbegeisterung zündete jedoch nicht nur in Amerika, sondern auch in Spanien, wo für ein winziges Budget von 810 Millionen Peseten (4,86 Millionen Euro) der Marsfilm Náufragos – Gestrandet von der jungen Regie-Debutantin María Lidón (alias Luna) entstand, die in dem Film auch die Hauptrolle der Kommandantin Susana spielt.

Szenenfoto aus dem Film "Nàufragos" (Spanien 2001)
Unglücksraben – Herbert, Jenny, Luca, Fidel und Susana loten ihre Möglichkeiten aus, auf dem Mars zu überleben

Ich liebe kleine, feine Science-Fiction-Filme, die abseits des Hollywood-Mainstreams mit wenig Geld, aber viel Herz­blut gedreht werden. Náufragos ist ein schönes, inhaltlich und optisch ansprechendes Beispiel dieser Art von Filmen. Das ambitionierte Science-Fiction-Drama vermeidet wohltuend die genreüblichen Actionorgien und Heldenfiguren und konzentriert sich stattdessen auf die Ängste und Konflikte der fünf gestrandeten Raumfahrer, für die es kaum noch eine Hoffnung auf Überleben gibt. Darüber hinaus schwelgt der Film über weite Strecken in naiver Begeisterung für die bizarre Schönheit des Mars und seiner eisigen, einsamen Wüsten. Wer selbst diese Begeisterung teilt, kann in Náufragos viel marsianische „Atmosphäre“ genießen – auch wenn er weiß, dass die Außenaufnahmen in der vulkani­schen Wüste von Lanzarote gedreht und orange eingefärbt wurden. Das Verfahren ist simpel, der Effekt jedoch abso­lut überzeugend. Interessanterweise wurde dieselbe Landschaft auch in Rainer Erlers Science-Fiction-Film Operation Ganymed (1977) genutzt, der wie Náufragos ein eigen­williges Raumfahrer-Survival-Drama darstellt und auch stilistisch sehr viel mit Lidóns Film gemein hat. In Ganymed diente Lanzarote als Bühne für den Jupitermond Ganymed und die Wüste von Niederkalifornien. Die Studioaufnahmen entstanden in Los Angeles und Valencia.

 

Auch die Kostüme, die Ausstattung und die Tricktechnik sind von erfreulich hohem Niveau. Sie lassen zwar durchaus das geringe Budget erkennen und verströmen bisweilen die beengte Anmutung eines Fernsehspiels – insbesondere die Computergrafik vom Raumschiff im Marsorbit wirkt sehr unnatürlich, und das Design des Raumschiffs ist ulkig –, aber sie sind professionell und opulent genug, um den Genrefreund zu erfreuen. Das Innere des Raumschiffs ist die wiederverwendete Kulisse des Space-Shuttles aus Clint Eastwoods Space Cowboys (2000). Die atemberau­bendste Effektszene ist die Kamerafahrt am Schluss: Die Kamera steigt von den überlebenden Astronauten am Boden langsam in den Himmel hinauf, blickt auf die antike Marsstadt im Vallis Marineris hinab und steigt dabei höher und höher, bis die Stadt zu einem winzigen Fleck wird, das Tal schwindet und schließlich der gesamte Mars das Blickfeld ausfüllt. Eindrucksvoller lässt sich nicht darstellen, in welch endloser einsamen Weite die Astronauten gestrandet sind – wobei offen bleibt, ob sie jemals gerettet werden.

 

Karger Mars

 

Náufragos hat freilich auch mit gravierenden Schwächen zu kämpfen und musste deshalb viele Verrisse einstecken. Zudem floppte Náufragos wie seine großen Hollywood-Vorgänger in den Kinos. In Deutschland kam der Film gar nicht erst auf die große Leinwand und wurde gleich direkt zu den Videotheken und dem DVD-Markt durchgereicht, wes-halb der Film bei uns kaum bekannt ist.

 

Die von den Kritikern aufgezeigten Defizite sind zweifellos da, nur ist es Ansichtssache, ob man deshalb den Film ins­gesamt ablehnen möchte. Dass der Film, wie häufig bemängelt wurde, sehr ruhig, streckenweise schleppend insze­niert ist, halte ich durchaus für stimmig – es passt zur eher kammerspielartigen Thematik und Atmosphäre, erfordert allerdings in der Tat geduldiges Entgegenkommen. Auch die reichhaltige Nutzung der üblichen Marsklischees kann der Genrefreund großzügig akzeptieren und schauen, wie sie hier variiert wurden. Bereits die Ausgangssituation, dass die Besucher von der Erde auf dem roten Planeten stranden, ist ein ewiges Motiv fast aller Marsfilme (siehe dazu meine Rezension von Byron Haskins Robinson Crusoe auf dem Mars). Und wie in Brian de Palmas Mission to Mars und zuvor bereits in Byron Haskins Die Eroberung des Weltalls (1955) erlebt der Zuschauer in Náufragos eine weitere Beerdigung auf dem Mars – diesmal enttäuschenderweise ohne aufgetürmten Steinhaufen und aufgepflanztem Grabkreuz.

Szenenfoto aus dem Film "Náufragos" (Spanien 2001)
Die Astronauten sprechen letzte Worte bei der Grablegung ihres Commanders in der marsianischen Wüste

Schließlich kommt auch Náufragos wie viele andere Marsfilme nicht ohne eine marsianische Zivilisation aus. Hier ist sie wie in Mission to Mars schon vor Jahrmillionen untergegangen, und auch hier scheint sie auf geheimnisvolle Weise einst mit der Erde in Verbindung gestanden zu haben, denn die Mumien der Marsianer, die Susana entdeckt, sehen praktisch wie Menschen aus. Dass Fidel, der Astrobiologe, eine unabhängige „parallele Evolution“ geltend macht, ist ein in der Science-Fiction oft genutzter, dummer Kunstgriff, taugt jedoch bei Tageslicht besehen kaum als überzeu­gende Erklärung für die humanoide Gestalt der Außerirdischen. Ärgerlich sind auch die übrigen wissenschaftlichen Schwächen, die der Drehbuchautor Juan Miguel Aguilera (geb. 1960), seines Zeichens immerhin Science-Fiction-Schriftsteller, leicht hätte vermeiden können: So ist das Echtzeit-Interview mit dem mehrere Lichtminuten entfernten Marsraumschiff am Anfang des Films grober Unfug, und es ist auch kaum glaubwürdig, dass drei Astronauten in Raum­anzügen in ein acht Kilometer (!) tiefes Tal hinabsteigen, als sei das ein Spaziergang – selbst unter der schwächeren Marsgravitation.

 

Problematischer als all dies aber ist die karge Dramaturgie des Films. Die an sich überzeugenden Schauspieler agieren seltsam spröde und blutleer, obwohl die verzweifelte Situation ihre Nerven eigentlich zum Zerreißen anspan­nen müsste. Die oft hölzernen Dialoge gaben ihnen freilich wenig an die Hand. Die lebendigsten Darbietungen liefern noch Vincent Gallo als der hochintelligente, aber soziopathische Wissenschaftler Luca und die aparte Maria de Medei­ros als tatkräftige Jenny. Danel Aser hat als Inbegriff des stets naiven, optimistischen amerikanischen Pfadfindertyps seine Momente, und auch Joaquim de Almeida als an sich selbst zweifelnder Fidel vermag Sympathien zu wecken. María Li­dón als Susana bleibt hingegen unterkühlt, und Johnny Ramone als Lowell wirkt mit seiner erstarrten Mimik und frag­würdigen Hitlerfrisur fast schon wie eine Karikatur.

 

Das spannende Szenario von fünf Gestrandeten in einer lebensfeindlichen Umgebung, die mit der Situation irgendwie fertig werden müssen, wird leider nicht konsequent auf die Spitze getrieben. Die Astronauten sind stets gefasst, von kleineren Unstimmigkeiten abgesehen, und nie kommt es zwischen ihnen zu schwerwiegenden Konflikten. Ein Licht­blick, ja, der schwungvollste Moment des Drehbuchs, ist die Szene, in der Luca und Jenny, allein im Landemodul, an­einandergeraten: Er will sie ungelenk und linkisch zum Sex überreden, bevor sie sterben müssen, sie hingegen lehnt brüsk ab, verspottet seine Intelligenz und empfiehlt ihm, zu masturbieren, bis er „an Austrocknung stirbt“. Und siehe da: Plötzlich leuchten beide Figuren, sind erfüllt von Gelüsten, Wut und Scham, wirken menschlich und lebendig – gern hätte man mehr davon im Film gesehen.

Szenenfoto aus dem Film "Nàufragos" (Spanien 2001)
No sex for nerds – Jenny macht Luca klar, dass sie keinesfalls in Betracht zieht, „fickend zu sterben“

Stattdessen aber vermeidet es der Film beharrlich, die Charaktere psychologisch zu vertiefen und die prekären morali­schen Fragen, die die Erzählung aufwirft, durchzuspielen. Als die Kommandantin drei Astronauten selbstherrlich zum Sterben verurteilt, damit wenigstens zwei eine reelle Überlebenschance haben, gibt es anfangs zwar Widerworte, aber niemand begehrt massiv auf. Schon in der nächsten Szene fügen sich alle ohne Murren den Befehlen der Kom­mandantin, und sie selbst, Herbert und Fidel verlassen das Landemodul, um zum Vallis Marineris zu marschieren und dort zu sterben. Welch großartiger, ungeheuerlicher Konfliktstoff wurde hier in nur drei Filmminuten leichtfertig ver­geudet! Nach welcher Moral handelt Susana? Sie teilt kurzerhand die Astronauten ein in jene, die aufgrund ihrer be­ruflichen Fertigkeiten noch irgendwie „nützlich“ sein können und jene, die es nicht mehr sind – und nirgends wird ihr mörderischer Zynismus irgendwie problematisiert.

 

Die zweite Hälfte des Films wendet sich dann stärker den Rätseln und Wundern des Mars zu und mündet ein in die Entdeckung der Ruinen der Marszivilisation, deren technische Anlagen noch soweit funktionieren, dass sie praktischer­weise in den Ruinen der Marsstadt für eine sauerstoffhaltige Atmosphäre mit erdähnlichem Druck, Wärme, flüssiges Wasser und sogar marsianische Algen als Nahrung sorgen. Derartige Kunstgriffe scheinen für das Überleben von Mars­gestrandeten unausweichlich zu sein. Schon der Raumfahrer in Robinson Crusoe auf dem Mars stieß auf eine wunder­same Höhle, die Wasser und nahrhafte Wasserpflanzen bereithielt. Ihm gelang es aber immerhin, zumindest seinen Sauerstoff direkt aus dem Marsgestein zu gewinnen, eine Möglichkeit, über die die Figuren in Náufragos nur kurz nachdenken. Eine wirklich spannende Ausgangssituation wäre, wenn die Gestrandeten tatsächlich nur auf ihre eige­nen Ressourcen und Fähigkeiten beschränkt blieben. Gelänge ihnen dann auch das Überleben? Und wenn nicht – wie gingen sie dann mit der Situation um? Genau dieses Szenario hat Ridley Scott in seinem brillanten Hard-SF-Streifen Der Marsianer – Rettet Mark Watney (2015) durchgespielt – weitgehend konsequent und überzeugend, wenngleich bei genauerem Hinsehen auch hier bei den technischen Ressourcen, die der Marsgestrandete Watney nutzt, ein wenig „geschummelt“ wurde.

Szenenfoto aus dem Film "Nàufragos" (Spanien 2001)
Am Rande des Vallis Marineris – dessen Dunst Unerwartetes verbirgt

Eine Reise wert

 

Náufragos mag unterkühlt und sperrig sein und seine reichhaltig vorhandenen Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Wer böswillig urteilen will, mag in ihm gar nur ein ödes und uninspiriertes Rip-Off von Mission to Mars und Red Planet se­hen. Die Probleme des Films werden noch vermehrt durch eine gelangweilt wirkende deutsche Synchronisation. Aber der Film hat nichtsdestotrotz etwas Einnehmendes. Er atmet den Idealismus, die Noblesse und die Naivität altmodi­scher Space Operas und bietet Hard-SF von schlichtem Reiz – eine meditative Reise zum roten Planeten, die der einge­fleischte Genrefreund gern miterlebt, auch wenn der Film dabei das Rad nicht neu erfindet.

 

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Náufragos (Spanien 2001). Regie: María Lidón. Produzenten: José Magán; José Lopez, Stefan Nicoll (assoziierte Produ­zenten); Daniel Sales (überwachender Produzent). Companies: Niggeman IndieFilms S.L.; Dolores Pictures; Guerilla Films. Drehbuch: Juan Miguel Aguilera. Kamera: Ricardo Aronovich. Schnitt: Luis de la Madrid. Musik: Javier Navarrete. Art Direction: Paco Roca, Juan Miguel Aguilera, Margot Massina, Romana Redlova. Kostüme: Astrid Brucker. Makeup: Sagra Ramos. Spezialeffekte: John Palmer (Leitung); Antonio Garcinuno, Domingo Lizcano (Alienmumien). Visuelle Effekte: Rubén Algarra, David Martínez, Jordi San Agustín, Iván Valero; Cine Effecto. Darsteller: María Lidón (Susana Sánchez), Maria de Medeiros (Jenny Johnson), Vincent Gallo (Luca Baglioni), Joaquim de Almeida (Fidel Rodrigo), Da­nel Aser (Herbert Sagan), Johnny Ramone (Lowell), José Sancho (Andre Vishniac), Paul Gibert (TV-Moderator). Lauf­zeit: 95 Min.; Farbe. Premiere: 24. September 2001 (Spanien); 2. Dezember 2003 (Deutschland, DVD-Premiere).

 

 

© Michael Haul; veröffentlicht auf Astron Alpha am 7. Januar 2017

Szenenfotos © Niggeman IndieFilms S. L.; Kinowelt Home Entertainment