Stanislaw Lem: Solaris

Polnischer Originaltitel: Solaris. Science-Fiction-Roman. 1961 erstveröffentlicht im Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej („Verlag des Ministeriums der Nationalen Verteidigung“, Warschau). In Deutsch 1972 erstveröffentlicht im Marion von Schröder Verlag (Hamburg und Düsseldorf) in einer Übersetzung von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. Seither ist diese Übersetzung auch in zahlreichen Ausga­ben vieler anderer Verlage (dtv, Suhrkamp, Heyne, List, Claassen, Kaiser und ande­re) erschienen. Die erste Ausgabe in der DDR erschien 1983 beim Verlag Volk und Welt (Berlin) in einer Übersetzung von Kurt Kelm. Hier vorliegend ist eine Ausgabe der Übersetzung von Irmtraud Zimmermann-Göllheim vom Kaiser Verlag (Klagen­furt) von 1981. Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 238 Seiten.

 

In ferner Zukunft begibt sich der Psychologe Kris Kelvin zu einer Forschungsstation, die etwa 600 Meter über der Oberfläche des viele Lichtjahre entfernten Planeten Solaris schwebt. Dieser Planet, der eine instabile Umlaufbahn um zwei Sonnen beschreibt, wurde ein Jahrhundert vor Kelvins Geburt entdeckt und gibt der Wissenschaft seither Rätsel auf. Fast die gesamte Oberfläche von Solaris ist von einer Art Ozean bedeckt, der die Konsistenz einer sirupartigen, plasmatischen Masse hat. Diese bildet aus schaumigen Kronen immer wieder riesige, oft sehr komplexe Ausformun­gen, die sich in den Himmel recken und verfestigen, um später wieder in den Ozean abzusinken und sich aufzulösen. Auch scheint der Ozean durch die Beeinflussung der Raumzeit in der Lage zu sein, die instabile Umlaufbahn des Plane­ten zu korrigieren.

 

Ein ganzes Heer von Wissenschaftlern hatte sich auf die Erforschung dieses Ozeans ge­stürzt, woraus schließlich ein eigener Wissenschaftszweig entstand, die „Solaristik“. Viele Beobachtungen und For­schungsberichte deuteten darauf hin, dass der Ozean auf Solaris eine intelligente Lebensform ist, doch konnte diese Annahme ebensowenig sicher bewiesen werden, wie es regelmäßig misslang, eine direkte Kontaktaufnahme herzu­stellen. Mit der Zeit wurden die Forschungsgelder der Solaristen nach und nach gestrichen, und immer mehr Wissen­schaftler verließen die über dem solarischen Ozean schwebende Forschungsstation.

 

Als Kelvin auf der Station eintrifft, findet er sie in einem heillos verwahrlosten Zustand vor. Von den drei zuletzt ver­bliebenen Wissenschaftlern sind nur noch der Kybernetiker Snaut und der Biologe Sartorius übrig; der Stationsleiter Gibarian hat kurz zuvor Selbstmord begangen. Snaut und Sartorius wirken überdies nervlich angespannt und beinahe geisteskrank. Bald entdeckt Kelvin, dass sich seltsamerweise noch weitere, unbekannte Personen auf der Station be­finden: In einem Korridor begegnet ihm eine schwarze Frau, und Sartorius, der sich die meiste Zeit im Laboratorium der Station einschließt, verbirgt darin offenbar ein kleines Kind. Snaut erklärt Kelvin, dass diese anderen Menschen – er nennt sie „Gäste“ – leibhaftige Manifestationen von Erinnerungen an Personen sind, die der denkende Ozean von So­laris aus den Köpfen der Forscher entstehen ließ.

 

Schon in der ersten Nacht bekommt auch Kelvin einen „Gast“: In seiner Kabine begegnet er einer Inkarnation seiner ehemaligen Lebensgefährtin Harey, die sich vor zehn Jahren das Leben genommen hatte, weil er sie damals verlassen wollte. Die Inkarnation hat zwar alle Eigenschaften der echten Harey, weiß aber fast nichts über ihre Vergangenheit. Kelvin gerät in Panik und versucht, die unheimliche Erscheinung wieder aus der Welt zu schaffen. Es gelingt ihm, Harey in eine Rakete zu locken und ins All zu schießen, doch schon am nächsten Tag erscheint in seiner Kabine eine neue Inkarnation von Harey. Nach und nach wagt es Kelvin, sich mit der Inkarnation zu beschäftigen, die dadurch mehr über sich erfährt. Sie beginnt, Ansätze einer menschlichen Persönlichkeit zu entwickeln. Schließlich erklärt sie Kelvin sogar, ihn zu lieben. Auch Kelvin macht sich irgendwann vor, dieses lebendige Abbild von Harey zu lieben, und malt sich sogar eine gemeinsame Zukunft mit ihm aus. Snaut indes warnt Kelvin und erinnert ihn daran, dass Harey kein Mensch, sondern nur ein künstlich geschaffenes Trugbild ist und vernichtet werden muss. Kelvin selbst erkennt, wie recht Snaut hat, als er bei der Untersuchung von Hareys Blutzellen feststellt, dass diese nicht aus Atomen, sondern aus Neutrinos aufgebaut sind, zusammengehalten von einem bislang kaum verstandenen Neutrinofeld.

 

Je mehr Harey ihre prekäre Situation mit Kelvin reflektiert, desto mehr ist sie davon überzeugt, dass nur ihr Verschwin­den Kelvin und ihr selbst helfen könnte. Sie versucht sich umzubringen, indem sie flüssigen Sauerstoff trinkt, doch wie durch Zauberhand heilen ihre inneren Verätzungen innerhalb von Stunden.

 

Sartorius hat indessen eine neue Idee entwickelt, dem Ozean von Solaris eine Botschaft zu übermitteln: Eine Aufzeich­nung der Hirnströme von Kelvin, umgesetzt in Röntgenstrahlen, soll auf den Ozean abgestrahlt werden, um so Kelvins Gedanken mitzuteilen. Das Experiment könnte ein Ende der Inkarnationen herbeirufen, wenn der Ozean, der vermut­lich unfähig ist, menschliche Gefühle nachzuvollziehen, erfährt, dass die Menschen keine Inkarnationen mehr ertragen wollen. Kelvin lässt sich auf das Experiment ein, und tatsächlich erscheinen danach keine Inkarnationen mehr. Harey aber kann nun endlich sterben: Ohne sich von Kelvin zu verabschieden, geht sie zu Sartorius und lässt sich von einem von ihm entwickelten „Annihilator“ – einem Gerät, das Neutrinofelder aufheben kann – vernichten. Harey verschwin­det in einem Lichtblitz. Kelvin erkennt, dass er nach dem erneut durchlittenen Verlust von Harey nicht mehr in ein ge­wöhnliches Leben zurückkehren will. Er beschließt, mit Snaut und Sartorius auf der Station zu bleiben, um sich weiter­hin der Möglichkeit auszusetzen, mit dem solarischen Ozean in irgendeiner Form in Kontakt zu treten.

 

Ein Meisterwerk, das vom Scheitern erzählt

 

Der Pole Stanisław Lem (1921–2006), hochgeachteter Schriftsteller und Theoretiker des Science-Fiction-Genres und darüber hinaus unnachgiebig suchender, zutiefst skeptischer Philosoph und Essayist, veröffentlichte 1961 mit seinem fünften Science-Fiction-Roman Solaris einen der bedeutendsten Meilensteine des Genres. Das Buch ist intelli­gente Science-Fiction in Reinkultur: Zwar bietet es eine nur dürre Handlung im begrenzten Rahmen eines klaustropho­bi­schen Kammerspiels, spekuliert aber dafür, ausgehend von soliden wissenschaftlichen Grundlagen, mit tiefschürfen­dem Ernst über vielfältige Fragen, die sich im fiktiven Fall eines Kontakts mit einer vollkommen fremdartigen außerir­dischen Lebensform ergeben könnten. Die gedankliche Opulenz des Romans begeistert.

 

Dreimal wurde Solaris inzwischen schon verfilmt: 1968 von Boris Nirenburg und Lidija Ischimbajewain als wenig be­kannte russische TV-Produktion, 1972 von Andrei Tarkowski als gefeiertes, anspruchsvolles Kino-Kunstwerk und 2002 von Steven Soderbergh als verflachte, auf Hochglanz polierte Liebesgeschichte. Vor allem Tarkowskis Film sorgte da­für, dass Solaris weltweit Berühmtheit erlangte und zum meistgelesenen Roman von Lem wurde. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Theater-, Opern- und Hörspielfassungen von Solaris. So wie Lem stets alle Verfilmungen seiner Werke heftig kritisierte und ablehnte, so hatte auch keine einzige Solaris-Verfilmung in seinen Augen Gefallen gefunden. Alle drei waren seiner Meinung nach zu stark auf das menschliche Drama zwischen Kelvin und Harey konzentriert, statt das zentrale Thema in den Blick zu nehmen, von dem Solaris nach Lems Meinung eigentlich handelte: die Grenzen der menschlichen Erkenntnis im Kontakt mit einer außerirdischen, radikal fremden Lebensform und der unausweichliche Anthropomorphismus menschlichen Denkens, der diese Grenzen bestimmt (vgl. zu Lems Kritik etwa Stanislaw Lem/ Stanislaw Bereś: Lem über Lem. Gespräche, 1986, S. 145–147). Ob Lem mit dieser Einschätzung seines eigenen Romans richtig liegt, wäre indes noch zu diskutieren, denn bei der Lektüre stellen sich durchaus Zweifel über die von Lem reklamierte Gewichtung der einzelnen Themenbereiche ein.

 

Solaris ist ein brillanter, intelligenter, faszinierender Roman, einer der besten, die das Science-Fiction-Genre bisher hervorgebracht hat. Er ist in einer außerordentlich klaren, präzisen und doch knapp gehaltenen Sprache geschrieben, in der mehrere philosophische, anthropologische und psychologische Fragestellungen diskutiert werden. Lem erzählt kein romantisches, bunt ausgemaltes Weltraumabenteuer, wie er dies noch in Die Astronauten (1951) und Gast im Welt­raum (1955) getan hatte, sondern inszeniert ein geschliffenes intellektuelles Spiel. Wer es liebt, sich im Rahmen der Science-Fiction, die fiktiv die Begegnung mit dem „ganz Anderen“ ermöglicht, mit Fragen wie nach den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, den Möglichkeiten radikal fremdartiger Lebensformen oder den menschlichen Reaktio­nen auf solche Lebensformen auseinanderzusetzen, wird in Solaris erlesenen intellektuellen Genuss erleben. Die im Roman aufgeworfenen philosophischen Fragen sind nach wie vor nicht gelöst, die gebotenen Ansätze für Antworten noch immer nachdenkenswert, und so ist Solaris immer noch ein Roman, der sehr frisch und zeitgemäß wirkt. Schon dies allein ist in der Science-Fiction, deren Erzählwerke in der Regel sehr rasch veralten, eine bewundernswerte Leis­tung.

 

Neben allem philosophischen Nachdenken über die Andersartigkeit Außerirdischer und die anthropomorphe Begren­zung menschlichen Weltverstehens ist Solaris aber auch ein mitreißendes psychologisches Drama um Schuld und Sühne – und wäre der Roman das nicht, wäre er mit Sicherheit nicht annähernd so erfolgreich gewesen. In Kelvins Konfrontation mit den Inkaranationen seiner verstorbenen, gerade einmal 19 Jahre jungen Freundin Harey, wegen deren Selbstmord er schwere, unbewältigte Schuldgefühle mit sich herumschleppt, wird Kelvin gezwungen, sich selbst einer schmerzhaften psychotherapeutischen Reflexion zu unterziehen.

 

Kelvins erste Reaktion auf die ihm erscheinende Harey ist, dass er sie für eine gespenstische Heimsuchung hält und umbringen will; erst allmählich legt sich seine Abscheu, während Hareys Inkarnation durch das Zusammensein mit ihm immer menschlicher wird. Lem gelingen überaus raffinierte Bilder, die die Vergangenheit der belasteten Beziehung symbolisch wiederspiegeln. So klammert sich die falsche Harey anfangs so anhänglich und unerbittlich an Kelvin, wie dies die echte offenbar auch getan hatte. Zwar sagt Kelvin an einer Stelle, dass die echte Harey sich im Gegensatz zu ihrer Kopie niemals aufgedrängt habe (vgl. S. 69), doch in Kelvins Schilderung von Hareys Selbstmord erwähnt er zweimal, dass Harey ihm damals ausdrücklich gedroht habe, sich etwas anzutun, wenn er sie verlassen sollte, und dies kann durchaus für eine zwanghafte, besitzergreifende Vereinnahmung Kelvins in Anspruch genommen werden (vgl. S. 66; S. 82f.). Die falsche Harey kann in gleicher Weise nicht allein bleiben, ohne freilich zu wissen warum, und wenn Kelvin sie dennoch dazu zwingt, durchbricht sie wie ein irrsinniges Monster mit übermenschlicher Kraft eine Stahltür und schneidet sich dabei die Hände blutig. Erst später, mit viel Verständnis und Zureden, lernt sie mühsam, für kürzere Zeitspannen von Kelvin getrennt zu sein.

 

Als Kelvin der falschen Harey erklärt, sie zu lieben, ein so unvermitteltes wie hohles Geständnis, glaubt sie ihm nicht und ahnt stattdessen, dass sie für Kelvin eine Last ist. Und sie erfährt, dass sie selbst ein eigentlich unmöglicher, nach dem Muster einer Erinnerung künstlich geformter Mensch ist, der keine Chance auf eine von Solaris unabhängige Existenz hat. Ihr Selbstmordversuch, bei dem sie flüssigen Sauerstoff trinkt, gehört zu den unsterblichen Szenen der Science-Fiction-Literatur. Kelvin muss Hareys Selbstmord ein zweites Mal durchleiden, doch nachdem die falsche Harey ihren Selbstmord überlebt – ihre Verätzungen und Erfrierungen verheilen wundersamerweise binnen Stunden –, entschließt sich Kelvin, ausweglos, sich ganz auf Harey einzulassen und erklärt ihr, dass er mit ihr ein gemeinsames Leben aufbauen will. Und doch weiß Kelvin, dass er sich damit selbst betrügt: Tatsächlich ist ein Leben mit Harey auf der Erde, fern von Solaris, ausgeschlossen, da das Neutrinofeld, das Harey zusammenhält, direkt von Solaris gespeist und aufrechterhalten wird; vor allem aber ist die falsche Harey trotz allem eben nicht die echte. Jene ist unabänderlich tot, und die Fehler, die sie und Kelvin damals gemacht haben, sind unabänderlich der Geschichte eingeschrieben. Kelvins Sühne mag ihm allenfalls seine Vergangenheit mit Harey erhellen, obgleich der Leser nicht den Eindruck erhält, dass dies geschieht. Wiederholen und ändern aber kann er diese Vergangenheit nicht. Die falsche Harey bietet keine zweite Chance.

 

„Solaristik“: Ein Lehrstück über die Beschränkungen der Wissenschaften

 

Parallel zum psychologischen Drama, das Kelvin mit Harey durchlebt und das die Handlung des Romans vorantreibt, werden in Solaris drei einander stark überlappende und miteinander verzahnte theoretische Themenbereiche aufge­griffen und reflektiert. Da ist zum einen die objektiv denkbare Möglichkeit, dass es im Universum Formen intelligenten Lebens geben könnte, die so radikal verschieden sind, dass der Mensch mit seinen unweigerlich anthropomorphen Kategorien des Denkens keine Chance hat, eine derartige fremde Intelligenz zu verstehen – eine sinnvolle Kontaktauf­nahme bleibt ausgeschlossen. Lem hat diese Perspektive, mit der er sich auch in anderen Romanen und Erzählungen beschäftigte, in der Science-Fiction natürlich nicht als erster entwickelt. Beispielsweise hat schon Olaf Staple­don in seinem Roman Die Letzten und die ersten Menschen (Last and First Men, 1930) eine marsianische, wolkenförmi­ge Lebensform geschildert, deren einzelne mikroskopische Individuen kollektiv im Bewusstsein zusammengeschlossen sind und sich radikal von irdischen Lebensformen unterscheiden (auch wenn sie in anderen Hinsichten wieder sehr anthropomorphe Verhaltensweisen an den Tag legen), und Stanley G. Weinbaum kreierte in seiner Novelle Mars-Odyssee (A Martian Odyssey, 1934) verschiedene marsianische Lebensformen, die sich derart grotesk vom Menschen unterscheiden, dass eine Kommunikation zwischen ihnen und dem Menschen von der Erde fast oder sogar gänzlich ausgeschlossen bleibt.

 

In Solaris treibt Lem die Vorstellung radikal andersartiger Außerirdischer auf die Spitze. Er versucht, das fremde Wesen so bizarr und enigmatisch wie nie zuvor auszumalen – eine planetengroße, lebendige, gallertartige Masse, der eine irgendwie geartete Psyche eignet, „was auch immer unter jenem Wort zu verstehen sein sollte“ (S. 198); ein amorphes Wesen ohne erkennbare Sinnesorgane, bei dem nicht einmal die Anzahl von Einzelindividuen bestimmbar ist, das aber unverkennbar „lebte, dachte, sich betätigte“ (ebda.).

 

Manfred Geier hat in seiner minuziösen Studie „Stanisław Lems Phantastischer Ozean“ (erschienen in Werner Berthel [Hrsg.], Über Stanisław Lem, 1981, S. 96–163) eine Auslegung mithilfe semiotischer und psychoanalytischer Instrumen­tarien versucht und in Lems Schilderung des wallenden, langsam fließenden, sich ausdehnenden und wieder konkra­hierenden Ozeans eine unbewusste Evozierung der Vagina erken­nen wollen. Lems Verwendung von Begriffen wie Schaum, Schleim, Wasser, Muskeln, Blut oder Formu­lierungen wie „Lippen, die sich zusammenkrampfen wie lebende, muskulöse, sich schließende Krater“ oder „abortives Mimoid“ schei­nen dieser Lesart augenscheinlich recht zu geben. Mir scheint jedoch, dass dieser Ansatz kaum über eine Psychoanalyse des Autors selbst hinausgelangen kann. Denn eine so klischeehafte wie sexistische Konnotation des Weiblichen als „das Unverständli­che“, mit dem lediglich auf der Ebene widerstreitender intensiver Gefühle – denn es wird nicht allein Attraktion, sondern auch Ekel in Lems Schilde­rungen artikuliert – ein Kontakt möglich ist, bis hin zur sexuellen Vereinigung – dem Eintau­chen in den Ozean –, ferner eine signifikante Opposition dieses Konstrukts zum Klischee des Männlichen als „das Verständliche“, die Vernunft, scheint mir in Solaris nicht vorzuliegen. Denn auch die Möglichkeit einer quasi ekstatischen Erkenntnis des Unver­ständlichen realisiert sich im Roman nirgends – auch am Schluss nicht, wo Kelvin, in direktem physischem Kontakt mit dem Ozean, lediglich etwas von dessen geistiger Weite und Andersartigkeit ahnt. Mit der unreflektierten Fortschrei­bung tradierter Mystifikationen des Weibli­chen oder der angeblichen Gestaltlosigkeit und Unerkennbarkeit der Vagina kommt man in der Interpreta­tion von Solaris nicht weiter.

 

Die mimetischen und mathematischen riesigen Gestalten, die der Ozean aus schaumigen Verkrustungen seiner Masse erschafft und über seiner Oberfläche emporwachsen lässt, surrealistischen Werken Salvador Dalís gleich, sind von bizarrer Eindrücklichkeit – insbesondere die Vision eines vier Meter großen Kleinkindes, das, aus den Gedanken eines Solaristen geschöpft, über den Wellen des Ozeans thront und abstoßend mechanische Bewegungen und Grimassen vollzieht, als würde es verschiedene Bewegungsabläufe seines Körpers nachvollziehen und trainieren (vgl. S. 95ff.). So radikal wie nur denkbar versucht Lem das außerirdische Wesen des Ozeans vom Menschen abzuscheiden, und das führt ihn zu so bemerkenswerten Fragen wie: „Ist Denken ohne Bewusstsein möglich?“ (S. 30). Gleichwohl will Lem die Begegnung mit einem extrem fremden Wesen konsequent für den Menschen durchspielen und erfahrbar machen, so weit es eben geht.

 

Der Erfahrungshorizont eines derart von allem irdischen Leben verschiedenen Wesens hat mit dem Erfahrungshorizont des Menschen keine Schnittmenge und ist ihm so fern, dass ein Austausch von Informationen im Falle eines „Kontakts“ zu keinem Verständnis führen würde – so die These. Lem lässt sie einem fiktiven Gelehrten altehrwürdiger Schule namens Muntius in einer skeptischen solaristischen Schrift aus der Feder fließen:

 

Im übrigen, was erwarten sich Menschen, was können Menschen sich vom „Anknüpfen einer Nachrichtenverbindung“ mit den­kenden Meeren versprechen? Ein Register der Erlebnisse im Zusammenhang mit zeitlich endloser Existenz, die so alt ist, daß sie sich bestimmt nicht an den eigenen Anfang erinnert? Eine Beschreibung der Begierden, Leidenschaften, Hoffnungen und Leiden, die sich in spontanen Geburten lebender Berge freisetzen, der Umwandlung aus der Mathematik in die Existenz, aus Einsamkeit und Resignation – in die Fülle? Aber alles das ist doch unübertragbares Wissen, und wenn ihr es in eine beliebige irdische Spra-che zu übersetzen versucht, dann gehen alle die gesuchten Werte und Bedeutungen verloren, bleiben drüben auf der anderen Seite. (S. 200)

 

Zum zweiten thematisiert Lem in seiner Konfrontation mit dem „denkenden Meer“ die Frage, was der Mensch sich eigentlich von einem Kontakt mit einer außerirdischen Intelligenz erhofft – und legt damit die anthropozentrischen Voraussetzungen unseres Wünschens und Strebens frei, die ihre Ursachen in den unüberwindbaren anthropomorphen Wurzeln und Grenzen menschlicher Erkenntnis hat.

Stanislaw Lem, Solaris (1961), Buchcover der polnischen Erstausgabe
Cover der polnischen Erstausgabe 1961

Seit die Science-Fiction-Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Leben getreten ist, malte sie sich idealistische Visionen vom Kontakt mit hoch­entwickelten, gütigen Außerirdischen aus, die dem Menschen in ihrer moralischen und weisheitlichen Entwicklung weit voraus sind. Darin lag stets die kaum verhüll­te Sehnsucht nach Anleitung, nach einer Erlösung versprechenden Chance, von den Außerirdischen zu lernen und sich von ihnen Wege aufzeigen zu lassen, wie der bedauernswert unvollkommene Mensch zu einem besseren, zum idealen Menschen werden kann. Der moralisch und weisheitlich hochstehende Außerirdi­sche, der dem Menschen den rechten Weg aufzeigt, soll Orientierung, einen kos­mischen Maßstab und schließlich die Aufnahme in einer kosmischen Gemein­schaft bieten, nachdem der Mensch bisher immer nur mit sich selbst allein war. Darin verborgen liegen zutiefst religiöse Hoffnungen auf allwissende Vater- und Mut­terfiguren, die die Menschen an die Hand nehmen, auf Erlöser, auf Götter.

 

Lem überträgt die sehnsuchtsvolle, anthropozentrische Sichtweise auf die Außer­irdischen in die fiktive Realität seines Romans und reflektiert sie dort. Die Solaris­tik gerät zu einem Mythos, der bald von den Solaristen selbst erkannt und in sei­nen anthropozentrischen Voraussetzungen und Motiven zerpflückt wird: Die Solaristen, so eine selbstkritische Analy­se, „harren der Offenbarung, die ihnen den Sinn des Menschen selbst auseinandersetzen soll“ (S. 200).

 

So vertritt Lem in Solaris mit Nachdruck die Auffassung, dass der Mensch, auch wenn er die tiefsten Winkel des Uni­versums erforscht, letztlich immer nur auf der Suche nach sich selbst ist. „Menschen suchen wir“, wie Snaut Kelvin erklärt, „niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel“ (S. 85). Und so spiegelt sich der Mensch – im außerirdischen Ozeanwesen von Solaris, das ihm schmerzliche Erinnerungen und Sehnsüchte inkarniert, die unbewältigt und unverstanden in seiner Psyche verborgen liegen.

 

Diese Spiegelungen und Selbstreflexionen, die Lem seinen Antihelden als Aufgabe aufbürdet, führen das dritte große Thema aus, mit dem sich Lem in Solaris beschäftigt: dem erkenntnisphilosophischen Zweifel, dass der Mensch über­haupt zu einem tieferen Verständnis seiner selbst und seines Ortes im Kosmos vordringen könne. Interessanterweise bemüht Lem dafür nirgends, wie man vielleicht hätte erwarten können, bekannte erkenntnisphilosophische Systeme; von Plato über Descartes und Kant bis hin zu den modernen Philosophen kommt keine dieser Größen zu Wort oder wird als Referenz eingesetzt. Stattdessen erstellt Lem, in sichtlich genussvollem Spiel, selbst ein fiktives wissenschaft­liches System, die „Solaristik“, um an ihr den ständigen Wandel des wissenschaftlichen Bildes von der Welt und, damit einhergehend, dessen ständige Unzulänglichkeit zu explizieren. Wie er, im geschliffenen akademischen Jargon eines sich universalgelehrt gebärdenden Dozenten, der Solaristik eine geschichtliche Entwicklung andichtet, in der verschie­dene fiktive Geistesgrößen im akademischen Streit miteinander liegen, ohne sich dabei von historisch bedingten „Tendenzen“ und „Denkschulen“ frei machen zu können, ist von köstlicher Originalität. Die Brillanz der Gedankengänge einiger Solaristen, die Konsistenz und Strenge ihrer inneren Logik, wird ausdrücklich gelobt, und dennoch werden alle strahlenden Theoriegebäude im geschichtlichen Prozess von nachfolgenden Forschern wieder abgeräumt und durch andere ersetzt. Alle Hypothesen über den Ozean von Solaris und alle mit Entlehnungen und Analogien operierenden Beschreibungen und Systematiken der Solaristen werden angezweifelt und ihre schwankenden Grundlagen offenge­legt – fast so, als würde Lem hier sein eigenes vergebliches Ringen um wissenschaftliche Gewissheiten im erdrücken­den Dickicht der Fachliteratur reflektieren. Die Systeme der Wissenschaftler, so eine sich aufdrängende Quintessenz, sind menschengerecht, aber womöglich nie weltgerecht.

 

Lem reflektiert das sich selbst bespiegelnde Spiel der Wissenschaft, das auf diese Weise wie ein nichts erklärendes Perpetuum Mobile erscheint und deren Denker sich als vergebliche Don Quijotes der Erkenntnis erweisen – ihre Namen lesen sich „wie eine Gefallenenliste“ (S. 190). Statt Plato und Descartes finden wir ganz am Rande im Namen des fiktiven Physikers Fechner, des ersten Solaristen, der im solarischen Ozean sein Leben verliert (vgl. S. 46ff.), einen unerwarteten Verweis auf Gustav Fechners Allbeseeltheit des Universums, doch wird dies keineswegs zum Paradigma der Erklärung des solarischen Ozeans – es bleibt nur ein metaphysischer Gedanke unter vielen, eine Denkrichtung, die keine Bekräftigung erfährt.

 

Stanisław Lem, der philosophische Science-Fiction-Autor, erweist sich in Solaris, wie auch in vielen seiner anderen Ro­mane, als hartnäckiger Skeptiker. Nicht wenige Interpreten haben in Lems fiktiver Darstellung der Solaristik eine Satire auf die großspurigen, aber zu keinen stichhaltigen Aussa­gen führenden Wissenschaften entdecken wollen, doch wird in solcher Lesart das Thema zu Unrecht auf die leichte Schulter genommen. Eine satirische Auslegung ignoriert die teils aufrichtig bewundernde, teils schwermütige Atmo­sphäre dieser langen Passagen. Lem meint es durchaus ernst. Er ehrt nostalgisch die glänzenden Leistungen der Wis­senschaft, kann aber in seinen erkenntnisphilosophischen Zweifeln nicht mehr vollends an sie glauben – obwohl er zeit seines Lebens in letzter Konsequenz an den Wissenschaften festhielt, sich intensiv mit ihnen auseinandersetzte und stets betonte, dass es außerhalb von ihnen keine verlässlichen Antworten geben könne.

 

Und doch muss an dieser Stelle auch die Kritik an Lems widerborstigem Skeptizismus einsetzen. Das Problem, das sich in Solaris nämlich ergibt, ist, dass dem Leser die behauptete grundsätzliche Nichtverstehbarkeit des Ozeanwesens – stellvertretend für die Unmöglichkeit, die Welt überhaupt zu verstehen – bei genauerem Hinsehen durchaus nicht einzuleuchten vermag. Zunächst ist es ja nicht so, dass es überhaupt keine Kommunikation mit dem Ozean gäbe, wie Kelvin auch selbst gegen Ende des Romans feststellt. Dass die Manifestationen dieses Informationsaustausches – halluzinative Inkarnationen, in Röntgenwellen umgesetzte Gedankenströme – keine unmittelbar verständlichen Bot­schaften hervorbringen, ist zunächst einmal zweitrangig und vielleicht nur ein Problem mangelnder Analyse oder Systematik. In Hinblick der vom Solaristen Giese beschriebenen Formen der „Symmetriaden“ beispielsweise, die sich häufig über dem solarischen Ozean manifestieren und extrem komplexe, dreidimensionale Darstellungen mathemati­scher Gleichungen zu sein scheinen (vgl. S. 134ff.), ist der im Roman zum Ausdruck kommende Pessimismus bezüglich ihrer prinzipiellen Nichterfassbarkeit übertrieben, denn um sie zu verstehen bedarf es wahrscheinlich nur ebenbürtig komplexer Werkzeuge, die die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns supplementieren, so wie sich der Mensch auch für viele andere Wissensgebiete Werkzeuge wie Teilchenbeschleuniger, Computerprogramme und theoretische Modelle erschafft. Dass die Solaristen den Symmetriaden noch nicht mit adäquaten Werkzeugen beizukommen ver­mochten, bedeutet nicht, dass diese Gebilde nicht doch letzthinnig verstehbar wären.

 

Es irritiert, dass Lem seinen psychisch angespannten Wissenschaftlern auf der Solarisstation in dem Maße, wie sie sich mit ihren unterdrückten persönlichen Besessenheiten beschäftigen, ein immer geringeres Erkenntnisinteresse andich­tet. Bereitwillig philosophieren Snaut und Kelvin über die Vergeblichkeit wissenschaftlichen Strebens – und stellen daraufhin die Wissenschaft fast ganz ein. In einer Szene verabreden sich Kelvin, Snaut und Sartorius zu einem Kollo­quium, um das Phänomen der Inkarnationen wissenschaftlich zu diskutieren (vgl. S. 115ff.). In diesem Gespräch entwi­ckelt Kelvin interessante Beobachtungen und Ideen, wie etwa, dass die Inkarnationen aus Neutrinos zusammenge­setzt sind – womit sie sich prinzipiell als der menschlichen Wahrnehmung zugänglich erweisen. Snaut pflichtet bei und meint, dass eine derartige Struktur die regenerative Kraft der Inkarnationen erklären würde. Sartorius will darüber dis­kutieren, warum der Ozean die Erinnerungen der Menschen manifestiert, fragt sich, ob der Ozean mit den Manifesta­tionen über den Menschen experimentiert und welche Erkenntnisse der Ozean daraus schöpfen könnte. Hier wird in schönster Klarheit wissenschaftlich argumentiert, und es werden auch einleuchende Ergebnisse erzielt. Und doch verwirft Kelvin innerlich das Ganze: „Ich fühlte plötzlich Apathie. Dieses Gespräch war nicht einmal komisch. Es war unnötig“ (S. 117).

 

Wieso reagiert Kelvin auf diese Weise? Liegt der Grund allein in seiner Abneigung gegen Sartorius? Oder hat er bereits hier, am Anfang, wo er noch kaum etwas über die Inkarnationen weiß, für sich akzeptiert, dass die Wissenschaft für die Durchdringung des Problems, für die Erkenntnis, zu kurz greift? So oder so wirkt Kelvins Widerwillen unmotiviert, und es bleibt offen, warum Kelvin hier das Kind der Wissenschaft mit dem Bade ausschüttet.

 

Kelvin wendet sich von der Wissenschaft ab und konzentriert sich stattdessen darauf, in seinem schwierigen Verhält­nis zu Harey Klarheit zu gewinnen und sich so, uneingestanden, von seinen Schuldgefühlen zu erlösen. Doch auch dieses Bestreben bleibt vergeblich. Nach Hareys erneutem Verlust gelangt Kelvin nur zur bitteren Einsicht, dass seine wiederholt durchlittenen Qualen keinerlei Sinn haben; als Mensch ist er ohne erkennbaren Grund in ein grausames Universum geworfen, dass von seiner Liebe oder seinem Hass ungerührt bleibt und ihn dazu verdammt, die kurze Spanne menschlichen Daseins scheinbar sinnlos abzuspulen.

 

Literatur kann nicht anders, als letzten Endes vom Menschen zu reden, und so verwundert es nicht, dass die von An­fang an schiefe und schuldbeladene Liebesbeziehung zwischen Kelvin und Harey – die vielfach völlig falsch als zwar unvollendete, aber eigentlich tiefe, „wahre“ Liebe interpretiert wurde – unweigerlich ins Zentrum der Erzählung rückt. Hier liegen die mächtigsten Triebfedern des Romans, in ihr entfaltet er seine stärkste Dynamik, entgegen Lems Beteu­erung, der Roman handele in erster Linie vom erkenntnisphilosophischen Problem des anthropologisch perspektivier­ten und nicht verifizierbaren Weltverstehens. Es kommt nicht von Ungefähr, dass Lem ausgerechnet die von Schuld belastete, unbewältigte Gefühlswelt seines Protagonisten nach außen kehrt und reflektiert. Die Nichterkennbarkeit der Welt korrespondiert mit der Nichterkennbarkeit des Selbst. In dieser Korrespondenz sind die beiden Erzählstränge des Romans – die undeutliche Auseinandersetzung mit Solaris und die undeutliche Auseinandersetzung mit der mani­festierten, schuldbeladenen Psyche – miteinander verschränkt, wobei allerdings auch festgestellt werden muss, dass Lem der gegenseitige Bezug, die innere Verzahnung seines Werks, nicht vollends glückt und beide Stränge bisweilen eklektisch nebeneinandergesetzt in der Luft hängen.

 

In den komplexen und oft widersprüchlichen Gefühlen entdeckt Lem das Absurde und Schmerzliche des Menschseins, ohne dass sich in ihnen eine tiefere, verborgene Sinnhaftigkeit finden ließe. Schon in der Erkenntnis seiner selbst schei­tert der Mensch. Und so ist es nur folgerichtig und bezeichnend, dass Kelvin mit der Reflexion seiner selbst und seiner Beziehung zu Harey nicht zurande kommt. Denn genau betrachtet ist nicht nur das Verständnis des solarischen Oze­ans ein schier unlösbar scheinendes Problem. Tatsächlich ist es schon unmöglich, auch nur einen anderen Menschen in seiner existenziellen Ganzheit wirklich zu verstehen – oder sich selbst.

 

Kelvin gelingt keine Erkenntnis. Die Unzulänglichkeiten der Wissenschaften werden reflektiert, aber nicht aufgelöst. Eine derartige Lösung zu fordern, wäre gewiss auch zuviel verlangt, nicht nur von einem Roman, sondern von jeder denkbaren theoretischen Schrift, da hier fundamentale Dilemmata der Erkenntnisphilosophie berührt werden. Auch Kelvins Beziehung zu Harey, durchgängig von Täuschungen und Selbsttäuschungen belastet bis hin zur gegenseitigen Lüge, dass sie einander lieben würden, findet keine erhellende Auflösung. „Ich sah, daß es ungut zwischen uns stand, und daß sich dieser apathische und besinnungslose Schwebezustand nicht ins Unendliche hinziehen konnte“ (S. 206). Auch wenn es explizit nicht gesagt wird, kommt Hareys Vernichtung in Sartorius’ Anti-Neutrino-Feld für Kelvin einer Befreiung gleich.

 

Am Ende seines Romans gibt Stanisław Lem der Wissenschaft dann unvermutet doch noch eine Chance. Kelvin be­schließt, in der Solarisstation zu bleiben, um sich weiteren Versuchen der Kontaktaufnahme mit dem Ozean zu wid­men, dessen Handeln sich auf „irgendein Ziel“ zu richten schien. „Gewiß, nicht einmal dessen war ich ganz sicher. Aber fortzugehen, das hieße, diese vielleicht winzige, vielleicht nur in der Vorstellung existierende Chance auszutilgen, die in der Zukunft verborgen war“ (S. 237). Kelvin landet auf einem Gebilde des Ozeans, einem „Mimoiden“, und erfährt an seinem Ufer die „wendige Neugier“ (S. 236) der gallertartigen Masse, die seine Hände umfließt. Jene Neugier ist neben den Inkarnationen ein recht eindeutiges Indiz dafür, dass die Kontaktversuche des Ozeans, womöglich mit weiteren, anders gearteten psychischen Manifestationen, weitergehen werden. Dass Lem seinem Antihelden dabei in den Mund legt, keine Hoffnung auf Erkenntnis mehr, wohl aber noch eine Erwartung und sogar einen unerschütterlichen Glau­ben an kommen­de, ihn bewegende Ereignisse zu haben, ist dabei kaum mehr als eine sprachliche Spitzfindigkeit. „Ich wußte nichts“, erklärt Kelvin im letzten Satz des Romans, „und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.“

 

Solaris, ich sagte es bereits, ist er einer der größten Romane der Science-Fiction-Literatur – und er ist es eben nicht allein aufgrund seines ernsthaften und elegant eingelösten Bestrebens, die Wissenschaft zu thematisieren. Der Schlüs­sel seines Erfolgs liegt im Gegenteil im gelungenen Menschlichen, auf dessen Maßstäbe alles Literarische, alles Denken und letztlich auch alle Wissenschaftlichkeit hinausläuft. Erkenntnisphilosophisch war das gewiss nicht neu. Es war da­mals nur höchste Zeit geworden, dass auch der Science-Fiction dies einmal hinter die Ohren geschrieben wurde. Ein brillan­tes, intellektuell anregendes Meisterwerk.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 24. August 2016