John Scalzi: Geisterbrigaden

The Ghost Brigades (2006). Science-Fiction-Roman. In deutsch 2007 im Wilhelm Heyne Verlag erschienen. Übersetzung ins Deutsche von Bernhard Kempen. Taschenbuch, 428 Seiten.

 

Die Koloniale Union der von Menschen besiedelten Planeten ist bedroht. Der geniale Wissenschaftler Charles Boutin, der im Auftrag der Kolonialen Verteidigungsarmee (KVA) an der Weiterentwicklung des hirnimplantierten Computers BrainPal sowie des Verfahrens des Bewusstseinstransfers arbeitete, ist aus unerklärlichen Gründen abtrünnig gewor­den und zur feindlichen Spezies der Obin übergelaufen, die sich heimlich mit zwei weiteren Alienspezies gegen die Koloniale Union verbündet hat. Eine aus den Genen von Toten gezüchtete Spezialeinheit, die „Geisterbrigaden“, soll Boutin in einem Kommandounternehmen zurückholen und zugleich den drohenden großen Krieg gegen die drei Spe­zies abwenden. In Boutins Labor findet die KVA eine in einem Computer abgespeicherte Kopie von Boutins Bewusst­sein. Man entschließt sich, einen Kämpfer aus Boutins DNA zu züchten und in diesen Körper Boutins Bewusstsein zu transferieren, um so mehr Informationen über Boutins Motive und Ziele zu erfahren. Dieser neu geschaffene Kämpfer wird Jared Dirac genannt. Sein Ich bildet ein Amalgam aus dem eigenen Erleben und Denken sowie die Erinnerungen und Eigenheiten des Charles-Boutin-Bewusstseins. Seine Vorgesetzte, Lieutenant Jane Sagan, zweifelt, ob Dirac loyal oder ein schlafender Verräter ist . . .

 

Fulminante Fortsetzung von Krieg der Klone

 

Der zweite Band um John Perry und den interstellaren Krieg der Kolonialen Union gegen verschiedene Alienspezies knüpft unmittelbar an den Ereignissen in John Scalzis Debutroman Krieg der Klone (2005) an. John Perry kommt kurioserweise in dem Roman nicht vor, und der Roman erzählt auch nicht wie der erste Band in Ich-Form, sondern aus objektiver Erzählerperspektive. Die Hauptfiguren sind Perrys Freundin Jane Sagan, Offizierin der Spezialeinheit der Kolonialen Verteidigungsarmee, sowie Jared Dirac, ein Soldat der Spezialeinheit, der aus ganz besonderem Holz geschnitzt ist.

 

Die Soldaten der Spezialeinheit unterscheiden sich grundlegend von den gewöhnlichen KVA-Soldaten. Ihre für den Kampfeinsatz optimierten Körper werden gentechnologisch gezüchtet und mit technischen Finessen wie dem Hirncomputer BrainPal ausgerüstet. Für die Zucht werden die Gene Verstorbener verwendet, weshalb die Spezial­einheit auch mit leisem Unbehagen „die Geisterbrigaden“ genannt wird. Anders als bei den gewöhnlichen KVA-Soldaten findet kein Bewusstseinstransfer eines Menschen in den neuen Körper statt – die Gehirne neu geschlüpfter Superkämpfer sind „leer“ und werden stattdessen mit einem programmierten, stramm systemkonformen Soldaten­bewusstsein gefüllt.

 

John Scalzi ist das Kunststück gelungen, nach einem erfrischenden Erstlingswerk keinen Nachfolge-Roman zu schrei­ben, der sich wie eine Wiederholung des ersten Romans liest. Im Gegenteil: Dieser zweite Band ist deutlich besser geraten als der erste. Scalzis sprachlicher Stil und sein Tempo sind punktgenau wie eh – vielleicht eine Spur zu knapp –, der Plot des Romans aber ist ganz anders geknüpft als im ersten Band und bietet eine Fülle neuer Ideen. So bleibt die Lektüre bis zum Schluss spannend und hält jede Menge unerwarteter Wendungen bereit.

 

Scalzi holt aus den inzwischen vertrauten Elementen seines Universums neue Aspekte heraus. Im Mittelpunkt steht der Bewusstseinstransfer: Was genau geschähe, wenn einem menschlichen Gehirn plötzlich ein fremdes Bewusstsein „aufgespielt“ würde? Inwieweit ist dieses Bewusstsein von der physischen Beschaffenheit des individuellen Gehirns konfiguriert? Wie kann man sich das Erschaffen eines künstlichen Bewusstseins in einem zuvor „leeren“ Gehirn vorstellen? Interessante Spekulationen, die Scalzi vielleicht nicht immer bis ins Letzte plausibel, aber immerhin glaubwürdig umsetzt. Auch den BrainPal denkt Scalzi weiter. Die Darstellung vernetzten Erlebens („Integration“), bei dem sich mehrere BrainPals zusammenschalten, ist überzeugend, und die Aufdeckung der entscheidenden Achilles­ferse des BrainPals frappierend.

 

Bei der Erklärung der Genmanipulationen, die der Züchtung der Soldatenkörper vorausgehen (S. 75–80), hat Scalzi allerdings zuviel des Guten getan, denn je mehr er ins Detail geht, desto absurder erscheint das Ganze. Albern und wie ein überflüssiger Fremdkörper wirkt die Idee der „Gameraner“, einer gezüchteten Menschenrasse, die ohne technische Hilfsmittel im Vakuum des Alls überleben kann.

 

Besonders interessant an dem Roman sind zwei Dinge. Zum einen gelingt es Scalzi sehr gut, den inneren Widerstreit Jared Diracs, seine Suche nach seinem wirklichen Ich in seinem Kopf, darzustellen. Überhaupt wirken Scalzis Figuren in diesem Roman tiefgründiger und lebendiger als noch in Krieg der Klone.

 

Zum anderen vertieft Scalzi endlich die politischen Hintergründe der Kolonialen Union und ihrer Kriege gegen die Außerirdischen. Der abtrünnige Charles Boutin lässt durchblicken, dass die Koloniale Union durch ihre aggressive Expansionspolitik selbst die Schuld an der Feindschaft aller Aliens trägt. Während die außerirdischen Spezies sich in einem Galaktischen Konklave zusammenzuschließen beginnen, um mit diesem Instrument einen friedlichen modus vivendi zu finden, droht der chauvinistischen Menschheit die Isolation und letztlich die Auslöschung. Die Generäle der KVA reden später von einem „Kontra-Konklave“, von drohenden Allianzen, ohne ins Detail zu gehen, sodass hier noch einige Zusammenhänge für den dritten Band aufgespart werden.

 

Wenn man denn wollte, könnte man in der aggressiv agierenden Kolonialen Union eine Metapher auf die US-Politik der militärischen Alleingänge unter G. W. Bush hineininterpretieren. Insgesamt bleibt das Politische aber viel zu sehr im Hintergrund und zeitigt bei den Figuren keine inneren Konflikte, sodass der Versuch, Geisterbrigaden irgendwie im Lichte der zeitgenössischen US-Politik zu interpretieren, ins Leere läuft. Scalzi ist Heinlein-Verehrer, das sollte man nicht vergessen. Er beugt erneut ausdrücklich sein Knie vor Starship Troopers (1959) und bescheinigt Heinleins militaristischem Roman allen Ernstes philosophische Intelligenz (S. 126). Man sollte daher von Scalzi auch nicht die klare Verurteilung einer markigen Außenpolitik erwarten. Eher das Gegenteil.

 

Fazit: Geisterbrigaden ist spannende, abenteuerliche Military-SF ohne Anspruch und Tiefgang: modern, rasant, clever fabuliert, mit neuen Ideen, vertieften Figuren und mehr Hintergründen – und deutlich besser als der erste Band Krieg der Klone. Die Saga wurde von John Scalzi im dritten Band Die letzte Kolonie (2007) fortgesetzt und dort zu einem gewissen Abschluss gebracht.

 

 

Text: © Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 25. Februar 2016