Larry Niven: Myriaden

Myriaden. Science-Fiction-Storys. 1973 erschienen im Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe (Bergisch-Gladbach) in der Reihe Science-Fiction Taschenbuch (Band 21034). Die amerikanische Originalausgabe All the Myriad Ways erschien im Juni 1971 im Verlag Ballantine Books (Taschenbuch, 181 Seiten). Deutsche Über­setzung von Bodo Baumann. Coverillustration von Eddie Jones. Taschenbuch, 160 Seiten.

 

Larry Niven (geb. 1938) wurde mit seinem großartigen Bestseller Ringwelt (1970) weltberühmt und gilt als einer der bekanntesten Autoren von Hard-SF. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, die im sogenannten „Known Space“ bzw. dem „Ringwelt-Universum“ spielen, und hat auch außerhalb dieses fiktiven Szenarios der Zukunft der Menschheit viele Science-Fiction- und Fantasy-Romane verfasst.

 

Larry Niven ist aber auch ein erstklassiger Erzähler von Science-Fiction-Kurzgeschichten. All the Myriad Ways war 1971 nach Neutron Star (1968) und The Shape of Space (1969) bereits der dritte Sammelband einer Auswahl von Larry Ni­vens Kurzgeschichten, der in den USA veröffentlicht wurde. Der Band erschien zwei Jahre später als Myriaden auch in deutscher Übersetzung. Allerdings ist die deutsche Ausgabe gekürzt: Nicht enthalten sind zwei nur jeweils eine Seite kurze Erzählungen, die beide mit Unfinished Story betitelt sind, und drei Essays, die sich mit Science-Fiction-Themen wie Zeitreise oder Teleportation beschäftigen. Insbesondere der Essay Man of Steel, Woman of Kleenex hat im Scien­ce-Fiction-Fandom eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt, weil Larry Niven sich dort in ziemlich unappetitlicher Weise darüber ausließ, warum Superman und Lois Lane niemals Sex miteinander haben könnten (Supermans unverwundba­res Sperma würde Lois Lane buchstäblich zerreißen). Wer diese Grille in deutsch nachlesen möchte, hat im Heyne Science Fiction Magazin 12 (1985) Gelegenheit dazu.

 

Myriaden ist ein kurzweiliger, lesenswerter Sammelband. Mindestens vier der neun enthaltenen Ge­schichten sind von herausragender Qualität: Tausend Wege des Alls, Ein Astronaut geht vorbei, Gestrandet auf Pluto und Generalprobe Weltuntergang (auch bekannt als Wechselhafter Mond). Und auch die übrigen Geschichten bieten immer noch ver­gnügliches Lesefutter – bis auf die desaströs schlechte Erzählung Magie und Materie, die einzige Fantasy­geschichte in diesem Band.

1.  Tausend Wege des Alls

 

All the Myriad Ways (1968; 13 Seiten). Polizeikommissar Gene Trimble hat ein Problem: Seit Monaten häufen sich in seiner Großstadt unerklärliche Selbstmorde und Tötungsdelikte, die scheinbar völlig unmotiviert geschehen. Nun hat es auch den stinkreichen Hauptaktionär der „Parallelzeit-Gesellschaft“ erwischt: Er stürzte sich am frühen Morgen von der Terrasse seiner Appartmentwohnung im 26. Stock in den Tod – ohne Abschiedsbrief.

 

Der Vorfall bringt Trimble dazu, stärker über die „Parallelzeit-Gesellschaft“ nachzudenken. Diese war zu einer höchst gewinnbringenden Firma aufgestiegen, nachdem sie nicht nur bewiesen hatte, dass es fast unendlich viele parallele Zeitströme mit unterschiedlichen geschichtlichen Verläufen gibt, sondern auch Fahrzeuge entwickelt hatte, mit denen sie bemannte Expeditionen in andere Zeitströme schicken konnte. Die Expeditionen kehrten häufig mit technischen Erfindungen zurück, die im eigenen Zeitstrom noch nicht gemacht worden waren. Aus den Patenten auf diese Erfin­dungen schlug die „Parallelzeit-Gesellschaft“ immense Gewinne. Ist es allerdings ein Zufall, dass die Welle der Selbst­morde und Tötungsdelikte kurz nach den ersten erfolgreichen Expeditionen in andere Zeitströme eingesetzt hatte?

 

Jede noch so kleinste Entscheidung, jede nur denkbare Möglichkeit, wie die Ereignisse verlaufen könnten, ließ den Strom der Zeit in Verläufe auffächern, in denen sich jeweils alle Alternativen realisieren. Daher, so überlegte Trimble, gab es auch eine schier endlose Anzahl verschiedener Trimbles in verschiedenen Zeitströmen, und jede Entscheidung zwischen Für und Wider war eigentlich gar keine: Alle möglichen Manifestationen einer Entscheidung existierten stets parallel zueinander in verschiedenen Zeitströmen. Und daher, so seine Schlussfolgerung, machte keine Entscheidung eigentlich einen wesentlichen Unterschied . . .

 

Larry Niven ist in Tausend Wege des Alls in Höchstform: Er erzählt straff und lakonisch, streut dabei makabren, trocke­nen Humor ein und schließt mit einer frappierenden Pointe, die auf einer interessanten Überlegung zum oft genutzten Konzept der Zeitreise gründet. Zeitreise- und Parallelweltengeschichten rechnen in der Regel mit zigfach aufgefächer­ten, verschiedenen Zeitströmen. Wenn man sich dieses Konzept ganz konkret ausmalt, wie Larry Niven es hier tut, er­gibt sich zum einen eine reizvolle, bizarre Vorstellung von der Welt, zum anderen aber folgt daraus ein fast zwangs­läufiger Fatalismus: Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten machen keinen Unterschied mehr, da sich in der Schar der Parallelwelten ohnehin alle Entscheidungen und Möglichkeiten realisieren. Diese Beliebigkeit kommt ins­besondere dann zum Tragen, wenn die Möglichkeit zugelassen wird, zwischen den verschiedenen Parallelwelten zu reisen. Bei seiner Rückkehr kann der Reisende sich zudem oft gar nicht sicher sein, ob er wirklich in seine Welt zurück­kehrt oder nur in eine benachbarte, die ihr fast bis aufs Haar gleicht, wie Niven in seiner Erzählung zu bedenken gibt. Das Problem der Identität ist damit ebenso aufgeworfen wie das Problem der Beliebigkeit des Entscheidens, und bei­de scheinen nicht auflösbar zu sein. Niven zeigt die kapitale Schwäche von Parallelweltengeschichten auf. Hier nimmt er diese Schwäche satirisch aufs Korn, weshalb seine Geschichte wunderbar funktioniert. Anderswo jedoch wirkt sich diese Schwäche desaströs aus – wie beispielsweise in Iain Banks’ prätentiösem Roman Welten (2009).

 

2.  Ein Astronaut geht vorbei

 

Passerby (1969; 20 Seiten). Ein alter Mann beobachtet an einem sonnigen Tag auf einer Bank im Park das Treiben der Menschen. Da zieht ein Astronaut, ein sogenannter „Rammer“ – Pilot eines interstellaren Rammschaufel-Raumschiffs – die Aufmerksamkeit auf sich, der sich, geplagt von der ungewohnten Schwerkraft, mit schweren Schritten den Kies­weg entlangschleppt. Er ist offensichtlich Tourist. Als der Rammer am Wegrand einen hockenden kleinen Jungen sieht, der irgendetwas aufhebt und davongeht, wird ihm plötzlich schwindlig. Der alte Mann hilft ihm, sich auf die Bank zu setzen, und beide kommen ins Gespräch. Der Astronaut sagt, dass der Junge ihn an einen Vorfall im All erinnert hat, der ihm kürzlich widerfahren ist:

 

Das kilometerweite, filigrane Schaufelnetz seines Raumschiffs, das mit elektromagnetischen Feldern interstellaren Wasserstoff als Treibstoff für den relativistischen Antrieb sammelt, war in den Tiefen des Alls aus unbekannter Ursache plötzlich zerfetzt worden, und dem Rammer war klar, dass dies das sichere Ende für sein Schiff und sein Leben bedeu­tete. Doch er erhielt Hilfe. Ein gigantischer goldener Mann, der humanoid, aber doch auch ein wenig nichtmenschlich aussah, kam buchstäblich durch das All geschritten und blieb am Schiff des Rammers „stehen“. Der Rammer vermutete, dass dieser goldene Mann in Wirklichkeit das Raumschiff einer extrem hochentwickelten Rasse sei, das nach dem Ab­bild des Raumschiffbesitzers gebaut worden war. Der goldene Mann ergriff das Raumschiff des Rammers, das bequem in seine Faust passte, und „lief“ davon. Der Rammer verlor das Bewusstsein, doch als er wieder erwachte, fand er sich mitsamt seinem Raumschiff auf der Erde inmitten der Wüste der Sahara wieder. Dort wurde er schon bald von Ret­tungskräften geborgen.

 

Der alte Mann und der Astronaut spekulieren über den evolutionären Entwicklungsstand des fremden Helfers im All. Der Rammer gibt zu bedenken, dass die Individuen einer Spezies durchaus nicht alle gleich sind; selbstlose Hilfsbereit­schaft wäre deshalb auch bei höher entwickelten Spezies durchaus nicht ausgeschlossen. Er verweist als Beispiel auf den Jungen am Wegesrand, den er gesehen hatte: Das Kind hatte eine Raupe aufgehoben und in Sicherheit zu einem Baum getragen. Ein Erwachsener hätte die Raupe wahrscheinlich achtlos zertreten.

 

Auch diese Geschichte ist eine gelungene Miniatur, die über die Moral von höher entwickelten Spezies spekuliert und einen warmherzigen Schluss bereithält. Insbesondere am Anfang, wo der alte Mann seine Beobachtungen im Park schildert, sind von Nivens trockenem Humor geprägt, wie er auch in der ersten Geschichte des Sammelbandes begeg­net. Allerdings macht die Geschichte es dem Leser auch etwas schwerer, da sie ihn quasi ins kalte Wasser wirft: Der physisch an das Leben im All angepasste Rammer und das skurrile, ja, absurd anmutende Raumschiff des goldenen Mannes, das den Weltraum durchschreitet, sind recht hergeholte Konzepte, die eine gehörige Portion willing suspen­se of disbelief erfordern.

 

3.  Die Tücken des Nebels

 

For a Foggy Night (1968; 9 Seiten). Ein Mathematiker macht in einer Bar in San Francisco Bekanntschaft mit einem Fremden. Es ist Nacht, draußen in den Straßen herrscht dichter Nebel, und der Mathematiker wollte schon zu seinem Hotel aufbrechen, das sich gegenüber auf der anderen Straßenseite befindet. Der Fremde aber behauptet, dass es gar nicht sicher ist, dass das Hotel, vom Nebel verborgen, überhaupt noch da ist; die Verschwommenheit der Dinge im Nebel korrespondiert allenfalls mit der Wahrscheinlichkeit ihres Vorhandenseins. Im Nebel, so der Fremde, würden sich ständig verschiedene „Weltlinien“ trennen, aber auch wieder vereinigen. Der Mathematiker bleibt dem alkoholge­schwängerten Gerede gegenüber skeptisch, doch als er später die Bar verlässt – und der Fremde sich davonmacht –, kann er tatsächlich sein Hotel nicht mehr finden. In der Morgendämmerung wird er schließlich von zwei Männern er­griffen – und in eine Anstalt gebracht.

 

Eine hübsche kleine Geschichte, die wie Tausend Wege des Alls mit der Viele-Welten-Theorie spielt. Hier führt sie zu der Konsequenz, dass die Menschen einen vermeintlichen Grenzgänger aus einer Parallelwelt zwangsläufig für ver­rückt halten würden. Ob der Mathematiker tatsächlich verrückt ist, bleibt offen.

 

4.  Gestrandet auf Pluto

 

Wait It Out (1968; 10 Seiten). Nacht auf Pluto. Ein Astronaut steht einsam und starr auf der eisigen Oberfläche und sieht die Sterne über dem Horizont aufsteigen. Und er denkt daran, wie er in seine seltsame Lage geraten war. . .

 

Im Jahre 1989 erreicht die erste bemannte Expedition den Pluto. Der Astronaut und sein Kollege Jerome nähern sich mit einer Landefähre der Oberfläche des Planeten. Bei der Landung schmelzt sich jedoch die Landefähre mit ihrem defekten „Nerva-K-Antrieb“ in das plutonische Eis ein und friert fest, und beiden Astronauten gelingt es nicht, die Fähre wieder frei zu bekommen. Sie wissen, dass damit ihr sicheres Todesurteil besiegelt ist. Jerome bringt sich voller Verzweiflung um, indem er auf der Pluto-Oberfläche seinen Helm abnimmt. Augenblicklich gefriert er zu einer eisigen Statue.

 

Der Astronaut absolviert noch 30 Stunden lang einsam seine Forschungsaufgaben auf Pluto – bis er beim Anblick von Jeromes gefrorenem Denkmal seiner selbst eine Idee hat: Wenn es ihm gelänge, in der plutonischen Nacht schnell genug den gesamten Raumanzug auszuziehen, würde er so rasch gefrieren, dass vielleicht eine Chance bestünde, irgend­wann in der Zukunft wiederbelebt zu werden. Der Astronaut führt den Plan erfolgreich aus. Allerdings hat er nicht damit gerechnet, dass sein Bewusstsein jede Nacht auf Pluto, wenn die Temperatur bis auf fast Null Kelvin fällt, er­wacht, da sein erstarrter Körper dann zu einem Supraleiter wird. So sieht der Astronaut jede Nacht die Sterne über den Horizont steigen – und ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und auf Rettung zu hoffen . . .

 

Gestrandet auf Pluto – eine Story aus dem „Known Space“ – zählt zu Larry Nivens besten Kurzgeschichten. Sie lieferte auch das Motiv für das Cover dieses Sammelbandes. Die Vorstellung, eingefroren auf einer einsamen, dunklen Plane­tenoberfläche zu stehen, bei Bewusstsein, und nichts tun zu können als zu denken und zu warten, ist ungeheuer be­eindruckend. Nüchtern betrachtet ist es freilich absurd anzunehmen, dass das Gehirn des Astronauten bei nur weni­gen Kelvin über Null noch aktiv sein könnte, egal ob supraleitend oder nicht. Der Wirkung der Story tut dies allerdings keinen Abbruch. Erneut gefallen überdies Nivens lakonischer Stil und sein trockener, makabrer Humor, wie etwa hier:

 

Ob auch Jeromes Leiche diesen Zustand besitzt? Dasselbe halbe Leben lebt wie ich? Er hätte sich ausziehen sollen, wie ich das getan hatte. Mein Gott! Ich hätte daran denken sollen, ihm das Eis von den Augen zu wischen. (S. 58)

 

5.  Der total verpflanzte Mensch

 

The Jigsaw Man (1967; 16 Seiten). Ende des 21. Jahrhunderts sitzt Warren Lewis Knowles in Topeka in Kansas in Untersu­chungshaft. Es ist so gut wie sicher, dass das Gericht gegen ihn die Todesstrafe verhängen wird. Das aber bedeutet: Knowles’ Körper wird in einer vollautomatischen chirurgischen Klinik von Robotern fein säuberlich zerlegt und in Ein­zelteilen in einer Organbank eingelagert werden. Zum Tode verurteilte Straftäter, so die zynische Logik der neueren Gesetzgebung, tragen auf diese Weise posthum noch etwas zum Wohle der Allgemeinheit bei.

 

Als in Knowles’ Nachbarzelle ein Arzt, der einem kriminellen Organhändlerring angehörte, sich selbst mit einer Bombe in die Luft sprengt, um so die Verwertung seines Körpers zu vereiteln, kann Knowles durch das entstandene Loch in der Wand in das Nachbargebäude fliehen. Dort findet er sich in einer der vollautomatischen Kliniken wieder, in denen die Gesetzesbrecher zerlegt werden. Knowles wird ergriffen, doch vorher kann er noch die Organbank der Klinik mit einem Stuhl zerschmettern. Vor Gericht spielt diese neue Straftat jedoch keine Rolle mehr. Knowles wird allein wegen seiner ursprünglichen Delikte zum Tode verurteilt – das wiederholte Missachten von roten Ampeln im Straßenverkehr.

 

Larry Niven entwirft in dieser Geschichte, die wie Gestrandet auf Pluto im „Known Space“ spielt, ein Schreckensszena­rio, das er aus der Perspektive immer besserer Möglichkeiten der Organtransplantation ableitete: Die extreme Ver­schärfung des Strafrechts im Dienste einer Transplantationsindustrie, deren Hunger nach Organen anders nicht mehr zu stillen ist. Die Geschichte schockiert effektiv, bleibt aber nur ein Gag – sie ist letzten Endes satirisch viel zu stark überzeichnet, um als Zukunftsprognose ernst genommen zu werden.

 

6.  Magie und Materie

 

Not Long Before the End (1969; 16 Seiten). Ein listenreicher Zauberer besteht einen Kampf gegen einen tumben Re­cken, der mit dem zaubermächtigsten Schwert aller Zeiten, Glirendree, gegen ihn antritt. Der Zauberer siegt, weil er um die Endlichkeit von „Manna“, der Kraft der Magie, weiß: Mit einer rotierenden Metallscheibe, die der Umgebung alles Manna entzieht, bricht er die Macht des Schwertes. Eines Tages in ferner Zukunft, so sinniert der Zauberer trüb­selig am Schluss, wird sämtliches Manna der Welt aufgebraucht sein. Dann wird es keine Magie mehr in der Welt ge­ben, ein Zeitalter wird zuende gehen, und die tumben Muskelprotze werden dann stets siegreich bleiben.

 

Eine Fantasygeschichte, die ironisch ihr Fantasysetting distanziert, so wie Niven es hier praktiziert, kann meiner Mei­nung nach kaum je richtig funktionieren. Da hilft auch keine metaphorische Übersetzung des „Mannas“ als das knapp werdende Erdöl unserer Zeit, wenn man diesen Bezug denn herstellen möchte. Magie und Materie ist die mit Abstand schwächste Geschichte in dieser Sammlung.

 

7.  Generalprobe Weltuntergang

 

Inconstant Moon (1971; 34 Seiten). Diese mit dem Hugo und dem Locus Award ausgezeichnete Erzählung, vielleicht überhaupt die beste Kurzgeschichte, die Larry Niven je verfasst hat, habe ich bereits in meiner Rezension zum Heyne Science Fiction Jahresband 1982 gewürdigt. Der Text erschien dort unter dem Titel Wechselhafter Mond in einer neuen Übersetzung von Peter Pape, während die deutsche Erstveröffentlichung hier in Myriaden von Bodo Baumann über­setzt wurde. Beide Übersetzungen weisen im Vergleich zum englischen Originaltext sowohl Stärken als auch Schwä­chen auf. Alles in allem halte ich aber die Übersetzung von Bodo Baumann für die gelungenere, da sie sich in der Regel enger am Originaltext hält und sich weniger stilistische Schnitzer leistet.

 

8.  Gewogen und zu leicht befunden

 

What Can You Say About Chocolate Covered Manhole Covers? (1971; 15 Seiten). Tom Findlay ist einer jener Zeitgenos­sen, die auf Partys die Leute mit den ungewöhnlichsten und absurdesten Themen überrumpeln. Eine seiner Fragen kann dann schon einmal lauten: „Was halten Sie von schokoladeüberzogenen Kanaldeckeln?“ Die meisten Leute wen­den sich dann von ihm ab, aber es gibt auch immer wieder Menschen, die sich auf seine Gedankenexperimente einlas­sen.

 

Auf einer Party stellt sich Tom Findlay vor einen Gast und fordert ihn auf: „Nimm einmal an, die Legende von Adam und Eva ist eine Tatsache.“ Der Gast, dem es nicht mehr gelungen war, im Partygewühl rechtzeitig zu flüchten, lässt sich auf Findlays Erläuterungen ein, die darauf hinauslaufen, die Prinzipien der Zuchtauswahl und die evolutiven Effek­te von Inzucht zu erklären. Zum Spaß spinnen der Gast, seine Frau Carol, ein 15-jähriger Neun­malklug namens Hal Grant und eine junge Frau namens Joy Benjamin die Gedankengänge von Findlay weiter und ma­len ein Szenario aus, in dem die Menschheit nur ein Zuchtexperiment von Außerirdischen ist. Schon bald sehen sich die vier allerdings Knall auf Fall ins Alpha-Centauri-System auf einen erdähnlichen Planeten versetzt und müssen be­stürzt erkennen, wie richtig sie mit ihren versponnenen Hypothesen gelegen haben. Als einzige Gabe von ihren außer­irdischen Züchtern erhalten sie eine Scheibe, einem Kanaldeckel gleich, der mit Schokolade überzogen ist.

 

Gewogen und für zu leicht befunden greift gekonnt das oft verrückte Geplauder verschrobener Partygäste auf und mündet in eine bizarre Pointe ein, die allerdings auch absehbar ist. Was der schokoladenüberzogene Kanaldeckel am Ende der Geschichte soll, weiß Larry Niven allein, und es bleibt das Gefühl zurück, dass der Autor irgendwie mehr aus der Prämisse seiner Erzählung hätte machen können. Eine allenfalls durchschnittliche Geschichte.

 

9.  Die Probe aufs Exempel

 

Becalmed in Hell (1965; 19 Seiten). Die Astronauten Howie und Eric schweben mit einem Forschungsschiff wie mit ei­nem Heißluftballon in der dichten, stockfinsteren Atmosphäre der Venus 20 Meilen hoch über der Oberfläche. Eric ist ein Astronaut von ganz besonderer Qualität: Nach einem Unfall bei einem Mondlandemanöver hatte von seinem Körper nur sein Gehirn und sein zentrales Nervensystem gerettet werden können; beides verbanden die NASA-Inge­nieure später erfolgreich mit den elektronischen Steuerungssystemen des Venusschiffes. Als Eric nun die Antriebe starten will, um das Schiff wieder in den Orbit zum Mutterschiff zu hinaufzufliegen, meldet er Howie, dass er die Rammjets nicht mehr „fühlen“ – sprich: ansteuern – kann. Eric lässt das Schiff auf die Venusoberfläche sinken, sodass Howie aussteigen und das Schiff von außen untersuchen kann. Als Howie keinerlei Schäden entdeckt, keimt in ihm der Verdacht, dass Eric aus einem anderen Grund keinen Kontakt mehr zu den Antrieben des Schiffes hat. Eric hat vermut­lich eine Abwehrneurose entwickelt: unterbewusst lehnt er die Tatsache ab, dass die Schiffssysteme jetzt ein Teil von ihm selbst sind. Eric lehnt diese Vermutung ab und glaubt weiter an ein rein technisches Problem. So entschließt sich Howie, Eric bei einer waghalsigen Außenbordreparatur in mehreren Meilen Höhe mit einer Art „Placeboeffekt“ zu ku­rieren . . .

 

Die Idee, dass ein kybernetisch mit einer Maschine verschmolzenes Gehirn neurotisch auf seinen neuen „Körper“ rea­giert, ist durchaus interessant. Dabei wird die gespenstische Vorstellung eines Gehirns, das seines Körpers gänzlich beraubt ist, hier genausowenig ausgelotet wie in Curt Siodmaks klassischem Roman zu diesem Thema, Donovans Gehirn (1942) – auf den Larry Niven am Schluss seiner Erzählung direkt Bezug nimmt. Außerdem enttäuscht, dass, wie sich am Ende herausstellt, doch ein technischer Defekt vorlag und Howie mit seiner Theorie einer Neurose falsch lag. Der Story, die dem „Known Space“ angehört, fehlt mithin eine schlagende Pointe. Die Schilderung der Venus indes ist recht interessant: Niven stellt bereits die extremen Temperaturen, den hohen Luftdruck und die zerstörerische Zusam­mensetzung der Atmosphäre in Rechnung – Fakten, die anno 1971 bereits über die Venus bekannt waren. Allerdings liegt er falsch mit seiner Vermutung, dass keinerlei Licht bis in die tieferen Atmosphäreschichten der Venus vordringen könne und es daher auf ihrer Oberfläche stockfinster sei. Immerhin: Noch ist die Venus hier ein Schauplatz. Seit ihre höllischen Umweltbedingungen bekannt geworden sind, wird sie von Science-Fiction-Autoren leider nur noch sehr selten als Bühne genutzt.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 12. Juli 2017