Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern. Weimar 1897. Zwei Bände, iv + 421 Seiten und iv + 545 Seiten. Bis 1930 zahlreiche weitere Auflagen, sowohl zweibändig als auch in einem Band (ab etwa 1913 als „Volksausgabe“ bezeichnet); zunächst im Verlag Emil Felber, Weimar, auch Gerlach & Wiedling, Wien (1899), dann im Verlag B. Elischer Nachfolger, Leipzig. Vorliegende Auflage (12.–14. Tsd.) ist die bei Elischer erschienene gebundene Volksausgabe von 1913.
Empfehlenswerte moderne Ausgaben: Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman. Jubiläumsausgabe. Herausgegeben und mit einem Vorwort, Nachwort, Werksgeschichte und einer Bibliografie versehen von Rudi Schweikert. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998. Gebunden, 1072 Seiten. — Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern. Ungekürzte Neuausgabe des 9.–11. Tsd. (1908) des erstmals 1897 erschienenen zweibändigen Romans im Neusatz in einem Band. Kollektion Laßwitz, Abt. I, Bd. 4/5. Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg 2009. Gebunden, 607 Seiten (diese Ausgabe erschien 2012 auch als broschierte Sonderausgabe von 354 Seiten, im verkleinerten Drucksatz).
Einer deutschen Forschungsexpedition gelingt es, mit einem Heißluftballon zum ersten Mal in der Geschichte den geografischen Nordpol der Erde zu erreichen. Die drei Teilnehmer der Expedition, der Abenteurer Saltner, der Naturforscher Torm und der Astronom Grunthe, stoßen schon feierlich mit Champagner auf ihre Pionierleistung an, als sie eine ungeheure Entdeckung machen: Am Nordpol befindet sich in einem Binnenmeer eine schwimmende, kreisrunde, künstliche Insel, auf deren Oberfläche eine Landkarte der nördlichen Breiten der Erde nachgebildet ist. Noch ehe die Polarforscher entscheiden können, wie sie weiter vorgehen sollen, wird ihr Ballon in einem mächtigen Spiralsog immer weiter auf die Insel zugetrieben und direkt über dem Pol viele Kilometer weit in die Höhe gerissen. Der Ballon wird vom pfeilschnellen Aufstieg beschädigt, beginnt schließlich wieder zu fallen und stürzt ins Binnenmeer. Torm bleibt nach dem Absturz verschollen; Saltner und Grunthe aber werden von den geheimnisvollen Bewohnern der künstlichen Insel geborgen.
Die Polarforscher werden in prächtigen Gemächern im Inneren der Insel untergebracht, die mit allerlei technischen Annehmlichkeiten ausgestattet sind. Ihre Gastgeber – schlanke, wohlgestaltete Humanoide mit großen, glänzenden Augen, hohen Stirnen und schillerndem Haar – erweisen sich als freundlich und zuvorkommend. Sie erklären, dass sie vom Mars kommen und schon vor einigen Jahren die künstliche Insel am Nordpol gebaut haben, um von ihr aus die Erde für den Mars zu erschließen. Über der Insel befindet sich in exakt 6356 Kilometer Höhe eine ringförmige Raumstation, an der die Raumschiffe der Martier andocken; zwischen der Station und der Insel aber ist ein künstliches „abarisches Feld“ hergestellt, in dem die Schwerkraft so gesteuert werden kann, dass „Flugwagen“ im Pendelbetrieb hinauf und hinab verkehren können.
Während Grunthe sofort die Gefahr erkennt, dass die Menschheit von den technologisch haushoch überlegenen Martiern unterjocht werden könnte, entwickelt der sorglosere Saltner romantische Gefühle für die beiden blendend schönen Martierinnen La und Se. Ill, der Anführer auf der Insel, erklärt, dass die Martier, die sich selbst „Nume“ nennen, der Menschheit ihre überragende, Jahrhunderttausende alte Kultur lehren wollen, um die Erde in ihrer zivilisatorischen Entwicklung zu fördern. Grunthe sieht in dieser Ankündigung nur seine Befürchtungen bestätigt. Es gelingt ihm zwar, seine Freilassung zu erwirken, um zeitig ins Deutsche Reich zurückzukehren und das Vaterland vor den Martiern zu warnen. Saltner jedoch wird zum Mars befördert, um dort dem Zentralrat der Nume, dem höchsten Regierungsorgan auf dem Mars, als erstes Exemplar eines zivilisierten Menschen präsentiert zu werden.
Auf der Erde gewinnt die Entwicklung bald an Eigendynamik. Durch ein Missverständnis kommt es in arktischen Gewässern zu einem Feuergefecht zwischen einem britischen Kriegsschiff und einem martischen Luftschiff, bei dem die Martier gezwungen sind, gegen ihre hohe friedfertige Gesinnung Gewalt anzuwenden. Der Vorfall führt zur Eskalation auf beiden Seiten, und in einem heftigen Militärschlag vernichten die Martier die gesamte britische Flotte. Der Zentralrat der Nume, inzwischen von der Unfähigkeit der Menschheit überzeugt, den Frieden zu wahren und sich freiwillig zur höheren numischen Kultur erziehen zu lassen, erklärt über alle westeuropäischen Staaten seine Oberherrschaft. Als alle Versuche, militärisch Widerstand zu leisten, scheitern, müssen die europäischen Mächte zähneknirschend das martische Protektorat akzeptieren. Nach der völligen Entwaffnung Europas herrschen in den europäischen Städten und Provinzen martische „Kultoren“, die die Erziehungsarbeit an den Menschen aufnehmen sollen. Je mehr die Martier jedoch in das tägliche Leben der Menschen eingreifen, desto stärker wächst die Wut auf die neuen Herren . . .
Ein Meisterwerk der frühen deutschen Science-Fiction
Kurd Laßwitz (1848–1910) gilt mit Fug und Recht als der erste bedeutende Science-Fiction-Autor in Deutschland, wenn er auch weit mehr war als das. In Breslau als Sohn eines Eisengroßhändlers geboren, studierte Laßwitz ab 1866 in Breslau und Berlin Physik, Mathematik und Philosophie. Als Freiwilliger der Preußischen Armee nahm er 1870/71 am Deutsch-Französischen Krieg teil; danach setzte er sein Studium in Breslau fort, das er mit einem Doktor der Philosophie und dem Staatsexamen abschloss. Zu Ostern 1876 wurde Kurd Laßwitz als Gymnasiallehrer an das Ernestinum in Gotha berufen; knapp zwei Monate später heiratete er die jüdische Kaufmannstochter Jenny Landsberg (1854–1936), mit der er bald zwei Söhne bekam. Sein Leben lang sollte Laßwitz Lehrer in Gotha bleiben, obwohl seine Ambitionen größer waren. Neben dem Schuldienst, den er als deprimierende Pflicht empfand, ging Laßwitz mit beachtlicher Energie seiner eigentlichen Neigung und Berufung zur Wissenschaft nach. Er schrieb zahlreiche naturwissenschaftliche, philosophische und philosophiegeschichtliche Bücher und Abhandlungen, die in der Fachwelt großes Lob ernteten, und hielt wissenschaftliche Vorträge. Über viele Jahre hatte er dabei vergeblich gehofft, über das so geschaffene Renomée eine Universitätsprofessur erlangen zu können. Laßwitz hatte darüber hinaus von jungen Jahren an aber auch eine ausgeprägte literarische Ader. Er schuf ein beachtliches literarisches Oeuvre, vor allem Märchen, Kurzgeschichten, Novellen und Romane. Die meisten Werke tragen dabei sozialutopischen, spekulativen oder wissenschaftlich-fantastischen Charakter.
Laßwitzʼ literarisches Opus Magnum, sein einflussreichstes und bekanntestes Werk, ist der fast tausend Seiten umfassende Roman Auf zwei Planeten (1897), der sich heute als glänzender Klassiker des Genres ausnimmt, als „erster nach Rang und Umfang wirklich groß-bedeutender deutscher Science-Fiction-Roman“ (Rudi Schweikert). Das Buch erzielte bis zu Laßwitzʼ Tode 1910 eine Auflagenstärke von 11.000 Exemplaren und wurde in mehrere Sprachen übersetzt – ein beachtlicher Erfolg, wenngleich es auch übertrieben wäre, von einem Bestseller zu sprechen. Immerhin: Auf zwei Planeten blieb auch die nächsten zwei Jahrzehnte eine beliebte Lektüre und wurde immer wieder nachgedruckt. Das gelang praktisch keinem anderen deutschen Science-Fiction-Roman des 19. Jahrhunderts. Bis 1933 war eine Auflagenstärke von 70.000 Exemplaren erreicht. Im Dritten Reich geißelten die Nazis das Werk, das von humanistischen, pazifistischen und weltbürgerlichen Auffassungen geprägt ist, als „undeutsch“ und untersagten seine weitere Verbreitung, was dazu führte, dass es auch nach 1945 noch für viele Jahrzehnte beinahe ganz in Vergessenheit verblieb. Erst durch neue, ungekürzte und reichhaltig kommentierte Ausgaben im Verlag Zweitausendeins (1979) und im Heyne Verlag (1998) gewann der Roman wieder die Beachtung, die ihm gebührt.
„Der deutsche Jules Verne“, so wird Kurd Laßwitz häufig und keineswegs zu Unrecht genannt – ein philosophierender Pionier der deutschsprachigen Science-Fiction und fantasievoller Enthusiast der Technik, in einer Zeit, in der die industrielle Moderne mit Volldampf die Lebensbedingungen der Menschen umgestaltete und in der Vorstellung der Menschen technologisch alles möglich schien. Ein anderer Vergleich als mit Jules Verne indes ist erhellender, nämlich jener mit Herbert George Wells. Ein kurioser Zufall der Geschichte lässt den Engländer im selben Jahr, in dem Laßwitz sein Werk Auf zwei Planeten herausbringt, seinen berühmten Roman The War of the Worlds veröffentlichen. Nachdem „Marsromane“, in denen Menschen den roten Planeten besuchen, sich bereits seit den 1860er-Jahren großer Beliebtheit erfreuten, drehen Auf zwei Planeten und The War of the Worlds den Spieß um und erzählen zum allerersten Mal in der Literaturgeschichte von Invasionen vom Mars, bei denen die Marsianer gleich in Scharen auf der Erde auftauchen, um sie sich untertan zu machen. Beide Romane fassen ihr Thema jedoch vollkommen verschieden.
Während Wells die Marsianer als sozialdarwinistische Monster darstellt, die jede Form von Mitgefühl für unterlegene Kreaturen entwicklungsgeschichtlich hinter sich gelassen haben und bedingungslos die eigenen Belange und Ziele verfolgen – womit Wells eine gallige Kritik gegen die imperialistische Geisteshaltung und Politik der europäischen Großmächte seiner Zeit formuliert –, sind die „Martier“ bei Laßwitz überaus edle und kultivierte Wesen und der zivilisatorischen Entwicklung der Erdenmenschen um Jahrhunderttausende voraus. In ihnen versucht Laßwitz, die utopische Idee von nahezu vollendet aufgeklärten und vernünftigen, selbstbestimmten Persönlichkeiten, die in frei gewähltem „sittlichen Willen“ nach dem Ethos Immanuel Kants eine friedliche, wahrhaft „würdige“ Gesellschaft bilden, vor Augen zu stellen und als Vorbild für die Menschen zu empfehlen. Mehr noch, er spielt ein Experiment durch: Die Martier erklären sich zu Erziehern der Menschheit – das ist ihnen eine „heilige Pflicht“ (Bd. I, S. 294) – und wollen den Menschen ihre höhere Vernunft und Sittlichkeit – ihre „Numenheit“, wie sie ihre geistige Kultur frei nach Kants noumena „Verstandeswesen“ nennen – vermitteln. Laßwitz lässt das utopische Ideal und die raue zeitgenössische Wirklichkeit aufeinandertreffen, er erzählt von den Spannungen und gewaltsamen Entladungen, die sich daraus zwangsläufig ergeben müssten – Kritik an der Kolonialpolitik der Großmächte findet sich auch bei ihm. Und doch wird er nicht müde, in diesem utopischen Experiment die Möglichkeiten zu erwägen, wie das Ideal für die Erziehung zu einer aufgeklärten, sittlich vernünftigen und friedliebenden Menschheit in die Realität geholt werden könnte.
Ein wahrhaft ehrgeiziges Programm, weitaus schwieriger und komplexer, als alles, was Wells in seinem Roman über die Marsianer zu sagen hatte. Bei ihm bleiben die Eindringlinge vom roten Planeten wahrhafte Aliens – fremd, unverständlich und körperlich monströs; über ihre Kultur erfährt der Leser fast nichts. Laßwitz hingegen gestaltet seine Martier sehr detailliert aus. Zum einen stilisiert er sie zu filigranen, anmutig sich bewegenden, feenhaften Menschenwesen, quasi „Menschen der Zukunft“, mit hellem, fluoreszierendem Haar, großen, glänzenden Augen und hohen Stirnen (vgl. Bd. I, S. 48) – eine Physiognomie, die tiefgreifendes Wissen symbolisiert und längst zum Science-Fiction-Klischee geronnen ist. Zum anderen stattet Laßwitz sie mit zahlreichen technologischen Errungenschaften aller Art aus, die er sehr detailverliebt und logisch durchdacht schildert. Genau betrachtet erweisen sich gerade die technologischen Fortschritte der Martier, die es erst ermöglicht haben, dass auf dem Mars niemand mehr materielle Nöte und Sorgen erleiden muss, als die grundlegende Voraussetzung ihres freiheitlichen und sittlichen Aufstiegs.
Die spektakulärsten technischen Wunderwerke der Martier sind natürlich die großen, kugelförmigen Raumschiffe aus durchsichtigem „Stellit“, einem marsianischen Metall, das kaum auf Gravitation reagiert; sie dienten später als Vorbilder für die Kugelraumer in den Perry Rhodan-Romanheften. Die Raumschiffe werden im All mit Explosionsladungen von „Repulsit“ gesteuert – im Prinzip mit dem Rückstoßprinzip von Raketen –, einem Energieträger aus „kondensiertem Äther“ (vgl. Bd. I, S. 184–187). Faszinierend modern wirkt auch Laßwitz’ Idee von gigantischen, ringförmigen Raumstationen, ebenfalls aus Stellit, die in 6356 Kilometern über dem Nord- und Südpol der Erde schweben und an denen die Raumschiffe andocken, da diese für eine direkte Landung auf der Erde zu zerbrechlich gebaut sind. Zwischen der Raumstation und der darunter liegenden Polarstation haben die Martier jeweils ein „abarisches Feld“ installiert (abgeleitet aus griech. barys „schwer“), das mit elektromagnetischen Kräften die Schwerkraft aufhebt und so gesteuert werden kann, dass es die Schwerkraft sogar umkehrt und einen zwischen Erde und Raumstation pendelnden Reisewagen zur Raumstation hinauf fliegen lässt. In diesem Zusammenhang spricht Laßwitz auch von damals noch völlig hypothetischen „Gravitationswellen“ (Bd. I, S. 109), die bei ihm freilich noch eine Million Mal schneller als das Licht sind (tatsächlich überschreiten auch sie nicht die Lichtgeschwindigkeit, was allerdings vor der Veröffentlichung von Einsteins Relativitätstheorien noch nicht absehbar war).
Meines Wissens wird hier zum ersten Mal in der Geschichte der Science-Fiction-Literatur eine Raumstation geschildert, und das in durchaus glaubwürdigen Begriffen, die aus dem damals verfügbaren naturwissenschaftlichen Wissen extrapoliert waren (wenn auch diese Stationen noch keinem Orbit folgen, sondern stationär über den Polen schweben; Laßwitz hielt den Verkehr zwischen allen anderen Punkten der Erdoberfläche und dem All aufgrund der Erdrotation für nicht praktikabel). Wernher von Braun (1912–1977), der als Kind den Roman verschlungen hat, war nicht zuletzt von Kurd Laßwitz zu seinen eigenen Ideen für eine erdorbitale, ringförmige Raumstation inspiriert worden, wie er sie in den Fünfzigerjahren popularisierte und wie sie dann auch in vielen Romanen und Filmen – unter anderem in George Pals Die Eroberung des Weltraums (1955) oder Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968) – erscheint.
Ganz erstaunlich muss für die zeitgenössische Leserschaft auch die riesige Polarstation der Martier gewirkt haben, die als künstliche Insel in einem polaren Binnenmeer schwimmt und auf ihrer Oberfläche zu Zwecken der Navigation der abarischen Flugwagen eine exakte geografische Karte der arktischen Breitengrade aufweist – eine naturwissenschaftlich eingekleidete Version des mythischen Ultima Thule oder der „Insel der Seligen“. Die Polarforscher aus Deutschland staunen nicht schlecht, dass ihre luxuriösen Gemächer, in denen sie im Inneren der Insel untergebracht werden, Unterwasserfenster haben, hinter denen sie Fische und andere Meerestiere vorbei-schwimmen sehen. Jede Menge weiterer technologischer Wunderdinge, zumeist automatische Mechanismen, werden präsentiert, die Laßwitz alle detailliert erläutert: Fernsprechanlagen; Phonografen; Bücher, die an einem Griff gehalten werden und auf Knopfdruck die Seiten umblättern; Geräte, die Bücher laut vorlesen; sich automatisch zusammenrollende Türen; Automaten für exotische Nahrungsmittel; elektrische Kämme; ein unzerstörbarer, feiner Stoff aus dem seidigen Faden der marsianischen „Lis-Spinne“; und sogar eine fantastisch anmutende Art von Kammerdiener-Apparatur: Sie entkleidet den Herren oder die Dame vollautomatisch – mittels „abarischer“ Kräfte – und lässt die Kleidung durch den Raum in die Schränke schweben, worin sie, wieder vollautomatisch, gereinigt und gebügelt werden (Bd. I, S. 61 f.).
Wenn im zweiten Band des Romans die Menschen von den Martiern in ihren Raumschiffen auf den „Nu“, d. h. den Mars, mitgeführt werden, eröffnet dieser Besuch Laßwitz die Möglichkeit, die futuristische, hoch technisierte Heimatwelt der Martier in allen glänzenden Einzelheiten zu schildern. Politisch bildet der Mars einen planetenumfassenden, friedlich zusammenlebenden Staatenbund, der von einem Parlament und einem „zentralen Kontrollrat“ regiert wird. Im lieblich gedämpfen Licht unter den Kronen gigantischer Bäume haben die Martier planetenumspannende, von Fabri-ken und Industriebetrieben überbaute Straßen angelegt – „Stufenbahnen“ genannt, die sich wie Förderbänder rasant bewegen –, die von mächtigen, sich filigran emporschwingenden Bauwerken gesäumt werden. Laßwitz entwirft hier eine frühe, originelle und ökonomisch durchdachte Vision der Metropolis von übermorgen. Abseits der pulsierenden Großstadtstraßen erstrecken sich locker bebaute Villenviertel, die mit ihren Kieswegen und gepflegten Hecken ganz vertraut wirken, bis auf den Umstand, dass die Häuser beweglich sind: Im Falle eines Umzugs werden sie einfach auf Räder gesetzt und vollautomatisch an den nächsten Wohnort transportiert. Auch die berühmten Marskanäle, die Ende des 19. Jahrhunderts groß in Mode waren, fehlen bei Laßwitz nicht. Allerdings erwähnt er sie nur beiläufig und interessiert sich nicht näher für sie.
Kaum ein technologisches Feld, das von Laßwitz unbeackert bleibt: In der Frage der Energiegewinnung haben seine Marsianer schon seit Jahrtausenden vollständig auf die erneuerbare Energie der Sonneneinstrahlung gesetzt, und den Menschen gegenüber geben sie ganz offen zu bedenken, wie gedankenlos deren Ausbeutung fossiler Brennstoffe in Hinblick auf deren Begrenztheit und Umweltschädlichkeit ist – eine bemerkenswert frühe und damals wohl auch ziemlich vereinzelte Stimme des Umweltgewissens. Das Problem der Nahrungsproduktion wurde auf dem Mars längst mit chemischen Verfahren gelöst, die synthetische Nahrung aus Steinen erzeugen: Es gibt Gerichte wie „Kohlenwurst“, „Retortenbraten“, Mineralbutter“ oder „Kunstbrot“ (Bd. II, S. 247). Ein Kuriosum ist schließlich das „Retrospektiv“, eine Art Teleskop für Gravitationswellen, mit dem sich in die Vergangenheit blicken lässt.
Später, als sich der Konflikt zwischen beiden Planeten zuspitzt, entwickeln die Martier „Luftschiffe“ aus einem stabilen Material namens „Rob“, mit denen sie sich extrem schnell in der Erdatmosphäre fortbewegen können. Auch Laßwitz entwickelt wie Wells die Idee eines alles atomisierenden Energieschirms, der die Luftschiffe gegen Geschosse aller Art immun macht – er nennt ihn „Nihilitpanzer“ und lässt ihn durch eine Manipulation des „Äthers“ entstehen, und diesen undurchdringlichen Schutzschirm setzen die Luftschiffe später auch als Waffe ein.
So entrollt Laßwitz ein faszinierendes, einfallsreiches und gleichwohl plausibles Panorama einer außerirdischen High-Tech-Zivilisation, wie das in dieser Detailverliebtheit kaum jemand vor ihm gemacht hatte. Dies lässt seinen Roman auch heute noch – und insbesondere im Kontrast zu Wells’ War of the Worlds – erstaunlich modern anmuten. Während dort die Marsianer noch immer in altertümlicher und absurder Art und Weise à la Jules Verne in großen Projektilen von Kanonen auf die Erde geschossen werden, entwickelt Laßwitz eine wohldurchdachte, nach damaligen Maßstäben durchaus glaubhafte technologische Vision einer Raumfahrt, die auf der Manipulation der Gravitationskräfte im Sonnensystem beruht. H. G. Wells selbst sollte später Laßwitz’ Idee ganz ähnlich in seinem Roman The First Men in the Moon (1901) verwenden (ohne hier eine direkte Entlehnung unterstellen zu wollen, da sich Vorstellungen von Anti-Schwerkraft-Materialien auch in vielen anderen Marserzählungen jener Zeit finden): Dort treten seine Abenteurer die Reise ins All in einer Hohlkugel aus „Cavorit“ an, einem Material, auf das die Schwerkraft nicht wirkt und das praktisch mit Laßwitz’ „Stellit“ identisch ist.
Auf zwei Planeten wirkt aber nicht nur in seinen Ideen über Raumstationen, Raumschiffen und einer marsianischen High-Tech-Kultur auch auf heutige Leser noch zeitgemäß. Laßwitz schildert, wie seine Polarforscher, nachdem sie mit den Martiern zu ihrer Raumstation hinaufgefahren sind, von oben die Erde mit ihren vielen topografischen Einzelheiten überschauen, und wie sie der Anblick ergreift – sense of wonder des Weltalls, noch bevor irgendjemand dort gewesen ist:
In tiefem Schweigen standen die Deutschen, völlig versunken in den Anblick, der noch keinem Menschenauge bisher vergönnt gewesen war. Noch niemals war es ihnen so klar zum Bewußtsein gekommen, was es heißt, im Weltraum auf dem Körnchen hingewirbelt zu werden, das man Erde nennt; noch niemals hatten sie den Himmel unter sich erblickt. Die Martier ehrten ihre Stimmung. Auch sie, denen die Wunder des Weltraums vertraut waren, verstummten vor der Gegenwart des Unendlichen. Die machtvollen Bewohner des Mars und die schwachen Geschöpfe der Erde, im Gefühle des Erhabenen beugten sich ihre Herzen in gleicher Demut der Allmacht, die durch die Himmel waltet. Aus der Stille des Alls sprach die Stimme des einen Vaters zu seinen Kindern und füllte ihre Seelen mit andächtigem Vertrauen. (Bd. I, S. 232)
„Numenheit“, „sittlicher Wille“ und „aufgeklärte Vernunft“ als Schlüssel zur Zukunft
Laßwitz ist ein überzeugter Aufklärer und Erzieher im Sinne der moralphilosophischen Lehren Immanuel Kants und der Erziehungstraktate Schillers und Goethes – nach ihnen bildet er die „Numenheit“ der Martier, ihre sittliche Verfeinerung und Blüte gegenüber der rohen, unterentwickelten Menschheit. Insofern erfährt der Leser in der Numenheit nichts anderes als ein sehr irdisches Ideal der Aufklärung und frei gewählten Moral. Es ist ausgesprochen ehrgeizig und nobel, dass Laßwitz anders als viele spätere Science-Fiction-Autoren nicht einfach nur die höhere Moralität, Weisheit und Freiheit außerirdischer Besucher wie ein wundersames, transzendentes Heilsversprechen behauptet, sondern darum bemüht ist, sie auch in ihrer Konfrontation mit der irdischen Realität zur Geltung zu bringen und auszuformen. Doch letzten Endes scheitert er mit seinem Versuch: So ausgefeilt und detailverliebt die technologische Überlegenheit der Martier von ihm geschildert wird, so vage, undeutlich und widersprüchlich bleibt am Ende seine Schilderung der „Numenheit“, der martischen Moralität. „Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne seiner Anwendungen mit einem Male überblickten, diese bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns“ (Bd. I, S. 156) – Rudi Schweikert nennt diese Art martischer Weisheit „Kantische Trefflichkeit“ und stellt völlig zu Recht fest, dass sie „nur behauptet und nicht gestaltet“ wird (in Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman. Jubiläumsausgabe. Heyne 1998, S. 876). Und es gab und gibt nicht wenige Leser, die auf dieses nicht eingelöste Versprechen, die nicht vollzogene „Offenbarung“ der Numenheit, mit Enttäuschung reagiert haben.
Gewiss: Die Numenheit – die Lehren Kants – ist ein utopischer Fluchtpunkt, ein Ideal, von dem auch Laßwitz weiß, dass es in seiner Vollkommenheit wohl niemals für die gesamte Gesellschaft in die Realität zu holen sein wird. In der Geschlossenheit der utopischen Welt des Mars, in der ausschließlich aufgeklärte und freie Individuen leben, die aus selbstbestimmter, weiser Einsicht ihren selbstlosen, sittlichen Willen realisieren, scheint Laßwitz’ Idealität einer friedlichen und nur der Mehrung der Kulturleistungen gewidmeten Gesellschaft zu funktionieren. Doch im Konflikt dieser idealen Gesellschaft mit der irdischen Realität ist Laßwitz ehrlich genug, all die unvermeidlichen Reibungspunkte zu sehen und durchzuspielen.
Den Martiern fällt in diesem Zusammenspiel eine janusgesichtige Rolle zu. Zum einen handeln sie nach Kants und Laßwitz’ Ideal, indem sie erklären, dass ihr selbstverständliches und unabdingbares Ziel die Mehrung der Kultur, die Verbreitung der Numenheit im Sonnensystem und dementsprechend die Erziehung der barbarischen, gewalttätigen und unterwürfig ihren Machthabern ergebenen Menschheit zur freiheitlichen, vernünftigen und friedliebenden Kultur sei. Die Kolonisierung des Sonnensystems ist den Martiern „eine dringende Aufgabe der Kultur und somit eine sittliche Forderung, eine Pflicht der Numenheit“ (Bd. I, S. 111). Demgemäß wird schon sehr früh im Roman ganz unverblümt mitgeteilt, dass die Martier von ihrer Polstation aus „die Eroberung der Erde“ vorbereiten würden (Bd. I, S. 60). Auf der anderen Seite legt Laßwitz den Martiern mit diesem Programm exakt dieselbe imperialistische Rhetorik in den Mund, mit der die europäischen Großmächte um die Jahrhundertwende ihr eigenes Streben nach Kolonien in Übersee rechtfertigten, und lässt sie konsequenterweise gewalttätig werden, obgleich Gewalt ihrer hohen Sittlichkeit radikal widerspricht. Auch die Großmächte fühlten sich damals den besetzten Kolonialgebieten mit ihren „wilden“ und „unterentwickelten“ Völkern gegenüber sittlich und kulturell überlegen, und sie erklärten die Erziehung der Kolonien im Sinne ihrer eigenen nationalen Kultur zu ihrer moralischen Pflicht. Rudyard Kiplings Gedicht The White Man’s Burden (1899) ist ein prägnanter poetischer Ausdruck dieser Geisteshaltung – die allerdings, was nicht unerwähnt bleiben sollte, auch schon damals zum Teil zu scharfer Kritik herausgefordert hat.
Laßwitz’ Kritik am Imperialismus ist somit im gesamten Roman durchgängig ein zweischneidiges Schwert. Er hält der Hybris der Europäer satirisch einen Spiegel vor, indem er die Martier zunehmend imperialistisch und gewalttätig denken und handeln lässt und die Europäer in die Rolle der technologisch ohnmächtigen und unterjochten „Wilden“ versetzt. Mehr als einmal liest Laßwitz dabei der Menschheit, diesem „wilden Geschlecht“ (Bd. I, S. 333), die Leviten über ihre Unbildung, ihre Selbstsucht, ihre Brutalität und ihre blinde Obrigkeitshörigkeit. Laßwitz erweist sich hier als entschiedener Pazifist, was ihm damals häufige, verächtlich gemeinte Vergleiche mit Bertha von Suttner (1843–1914) eintrug. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn gleichzeitig sollen die Martier dem Leser als Vorbilder hoher Aufklärung und Vernunft vor Augen gestellt werden. Aus genau diesem Spannungsfeld erzeugt Laßwitz in seinem Roman eine Vielzahl von philosophischen und realpolitischen Kontroversen zwischen den Martiern und den Menschen, die jeweils überaus scharfsinnig argumentieren.
Mit diesem Widerspruch korrespondiert allerdings auch, dass Laßwitz an mehreren Stellen des Romans wie selbstverständlich den Glauben an die Überlegenheit der europäischen „Kulturvölker“ gegenüber ungebildeten „Wilden“ außerhalb Europas und Nordamerikas unterschreibt – er ist auch nur ein Kind seiner Zeit und nicht frei von einem gewissen Kulturchauvinismus. So überlegt beispielsweise die Martierin La, dass die Eskimos allzu primitiv seien, um sich mit ihrer Sprache zu beschäftigen. „Diese Eskimos“, denkt sie, „sind doch eine traurige Gesellschaft, und der Thrangeruch ist unerträglich“ (Bd. I, S. 66). Die Assoziierung der „primitiven“ Eskimos mit dem Gestank von Tran findet sich mehrfach im Roman: „Gegenüber den kleinen, unansehnlichen, schmutzigen und thranduftenden Eskimos erschienen [den Martiern] die stattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen Tracht schon äußerlich als Wesen verwandter Art“ (Bd. I, S. 151). Die deutsche Sprache wird gegenüber der Eskimosprache als „Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes“ gepriesen, „die dem geistigen Niveau der Martier soviel näher stand“ (Bd. I, S. 155). Entsprechend bezeichnet Laßwitz die Staaten Westeuropas und Nordamerikas des Öfteren als „Kulturstaaten“ (z. B. Bd. I, S. 257). Den tödlichen Guerilla-Angriff von Albanern gegen ein martisches Luftschiff nennt Laßwitz, ganz einig mit dem damaligen Vorurteil gegen die Balkanvölker, eine „Blutthat unzivilisierter Albanesen“ (Bd. II, S. 289).
Der martische Imperialismus wird, je mehr Widerstand die Nationen und Menschen der Erde ihm entgegensetzen, zunehmend ungeduldiger und gewalttätiger. Anfangs wollen die Martier die Völker Europas noch einvernehmlich und mit deren Zustimmung erziehen – martische „Kultoren“ sollen diese Aufgabe in den einzelnen Ländern wahrnehmen. Als sich dagegen nationale Widerstände regen, setzen die Martier die Kultoren schließlich mit Gewalt durch, was ihnen aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit und Unangreifbarkeit ein Kinderspiel ist. Doch im Zusammenprall mit der in weiten Teilen unaufgeklärten und von Gefühlen geleiteten Menschheit erodiert zunehmend das Ideal der Numenheit, und übrig bleiben am Ende aufgekratzte und gehässige Martier, die, heruntergestoßen von ihrem hohen Sockel, nunmehr nicht minder eigennützig und machtpolitisch argumentieren und nicht davor zurückschrecken, immer drastischere Gewaltmittel bis hin zur Zerstörung ganzer Städte ohne Rücksicht auf Verluste (z. B. Kronstadt und Moskau, Bd. II, S. 507) zu wählen.
Heutige Kritiker des Romans weisen gern darauf hin, dass alle Kriegshandlungen der Martier erst durch die störrischen und uneinsichtigen Menschen geschürt würden, es die Menschen somit quasi nur verdient hätten, wie die Martier sie behandeln; der Literaturwissenschaftler Walter Dimter meint gar, dass es „menschliche Hybris“ sei, „die feindlicheres Verhalten der Martier provoziert“ (Neue Deutsche Biographie 13 [1982], S. 681 f., online zu finden auf der Webseite Deutsche Biografie). Übertrüge man diese merkwürdige Selbstbezichtigung auf den Kontext des Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wäre also jeglicher Widerstand der unterjochten „wilden“ Völker, die um ihre Freiheit kämpften, eine ungerechtfertigte, ja, überhebliche Provokation der Kolonialherren. Nein, so simpel lassen sich Ursache und Wirkung nicht auseinanderhalten, und so behandelt auch Laßwitz diesen Punkt nicht. Für ihn ist die Freiheit immer ein sittliches Grundgesetz gewesen; er erachtet sie viel zu hoch, um den Freiheitswillen der noch unvollkommen aufgeklärten Völker so billig zu kompromittieren. Als Ell, Saltner und La einige martische Zeitungsberichte diskutieren, in denen der Menschheit ein überaus negatives Zeugnis ausgestellt wird, sagt La:
„Die Berührung mit den Menschen bringt einen Ton in unser Verhalten, wie er sonst im öffentlichen Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie sind gewiß nicht daran schuld; es liegt in der Sache selbst – die antibatische Bewegung setzt eine Verrohung des Gemüts voraus.“ (Bd. II, S. 102; Hervorhebung von mir)
Die „Verrohung“ der Martier infolge ihres superioren Anspruchs, den sie nicht gewillt sind, aufzugeben, und der Freiheitswille der irdischen Nationen sind schicksalhaft und unausweichlich miteinander verschränkt – sie sind sozusagen systemimmanent. „Wir wollten Frieden bringen“, sinniert der Kapitän eines martischen Luftschiffs, „aber es scheint, daß die Berührung mit diesem wilden Geschlecht uns in die Barbarei zurückwirft“ (Bd. I, S. 415). Und an anderer Stelle, nach mehreren blutigen Gefechten, klagen die Martier: „Gott verzeihe uns, wir wollten nicht töten“ (Bd. II, S. 223). Und doch töten sie, und zwar immer ausufernder, je entschiedener sie ihren „sittlichen Willen“ – und ihren Machtanspruch – durchsetzen wollen.
In gewisser Hinsicht befindet sich Laßwitz in einem schriftstellerischen Dilemma, da er weiß, dass Erziehung beim Schüler auch immer den Willen zur Pflichterfüllung voraussetzt, und wenn diese Pflicht nicht frei eingesehen wird, bleiben Zwangsmittel unausweichlich. Ell und eine Reihe weiterer Martier wie Ill oder La werden zwar nicht müde, wortreich von einer fruchtbaren Kooperation zwischen Martier und Menschen zu träumen, in der die Martier den Menschen ihre höhere Kultur lehren, während diese freiwillig aus aufgeklärter Einsicht heraus die Rolle der eifrigen Schüler einnehmen. Doch, und das ist das Entscheidende, diese Utopie entlarvt Laßwitz schließlich als illusorisch – die literarische Wahrhaftigkeit siegt über das theoretische Ideal.
Das Protektorat der Martier über die Erde entwickelt sich aufgrund seines kompromisslosen aufklärerischen Programms zunehmend zu einem gängelnden und diktatorischen Regime der Unfreiheit. Menschen, die nicht in die verordneten Zwangsschulen der Martier gehen, werden in „psychologische Laboratorien“ (Bd. II, S. 248) gesteckt – und dort letztlich gehirngewaschen. Andere, die die „Würde“ der Martier beschädigen, und sei es nur durch Klavierspielen (!), das den Martiern offenbar verhasst ist (vgl. ebda.), oder sich mit Gewalt ihren Anordnungen widersetzen, werden verfolgt, inhaftiert oder nach Übersee deportiert. Menschen, die gegen die gefährliche martische „Gragra“-Krankheit geimpft worden sind, werden gezwungen, zum Schutz der Martier gelbe Erkennungsmarken an der Kopfbedeckung zu tragen – eine unheimliche Vorwegnahme des Judensterns. Die anfängliche Toleranz der Martier schlägt um in Intoleranz, und Aufklärung gerät zur rücksichtslosen Unterdrückung. In der fiktionalen Kontemplation des Problems der aufklärerischen Erziehung gelangt Laßwitz interessanterweise zu einer Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung (1947) Horkheimers und Adornos. Bei Laßwitz wird zwar keineswegs wie bei Horkheimer und Adorno Herrschaft und Vernunft gleichgesetzt, er gelangt jedoch zu ähnlichen Konsequenzen: Die radikal durchgesetzte Vernunft führt zwangsläufig zum Gewaltstaat und zur Unfreiheit.
Dem Freiheitswillen der Völker gegen die Unterdrückung räumt Laßwitz am Ende seines idealistischen Experiments ein unbestreitbares Recht ein. Vorbereitet wird dieses Recht allerdings schon viel früher, denn schon ab dem zweiten Kapitel verdunkeln düster drohende Wolken die blendende Attraktion der weisen, aufgeklärten und friedliebenden Martier. Saltner gibt sich in dieser Frage von Beginn an kämpferisch und als entschiedener, von Affekten geleiteter Patriot. Die denkwürdigsten Äußerungen zu diesem Thema aber legt Laßwitz dem nüchternen, realistischen Astronom Grunthe in den Mund. Seinerseits ein treuer Patriot, erkennt und mahnt Grunthe als Einziger schon sehr früh, nach der Entdeckung der Martier am Nordpol, dass die Anwesenheit dieser hochentwickelten fremden Macht eine enorme Gefahr für die Menschheit darstellen muss (Bd. I, S. 26f.). Bald darauf, noch vor allen Expansionsbewegungen der Martier, entsteht mit den Polarforschern ein erster Konflikt, als die Martier ihnen aus strategischen Gründen die Rückkehr in die Heimat verweigern wollen. Die Konferenz mit den Martiern, in der Saltner und Grunthe ihre sofortige Heimkehr erwirken wollen, um die Heimat von den Martiern zu unterrichten, ist eine brillant geschriebene battle of wits beider Parteien, ein Paradestück eines kultivierten diplomatischen Wortgefechts (Bd. I, S. 276–297). Im Vorfeld dieser Konferenz mahnt Grunthe Saltner:
Wir Europäer haben so viele Völker niederer Zivilisation durch ihr Eindringen vernichtet, daß wir wohl wissen können, was für uns auf dem Spiele steht, wenn die Martier in Europa Fuß fassen. [ . . . ] Denken Sie an Cortez, an Pizarro, die mit einer handvoll Abenteurer mächtige Staaten zerstörten. [ . . . ] Mit dem Augenblicke, in welchem das erste Luftschiff der Martier über dem Lustgarten erscheint, ist das deutsche Reich ein Vasall, der von der Gnade der Martier, vielleicht von der Gnade irgend eines untergeordneten Kapitäns lebt, und so alle übrigen Staaten der Erde. [ . . . ] Durch ihre Repulsitschüsse erteilen die Martier einer Masse, die auf der Erde zehn Millionen Kilogramm wiegt, Geschwindigkeiten von 30, 40, ja bis 100 Kilometer. Wissen Sie, was das heißt? Leute, die das können, werden aus Entfernungen, wohin kein irdisches Geschütz trägt, ganz Berlin in wenigen Minuten in Trümmer legen, falls sie dies wollen. Die Europäer können dann einmal erleben, was sie sonst an den Wohnstätten armer Wilden gethan haben. (Bd. I, S. 259–261)
Grunthe sieht als einziger aus einfachen, stichhaltigen Gründen die Gefahr eines Krieges zwischen den Planeten aufziehen. Aber auch dem aufklärerischen Programm der Martier erteilt er aus realistischer Lebensweisheit heraus eine Absage. Nach der gewaltsamen Unterjochung der Menschheit und der Installation des repressiven martischen Protektorats über die Erde stellt Grunthe düster über die Lage der Menschheit fest:
„Wir sind Kinder geworden, die in die Schule geschickt werden. [ . . . ] Man will uns erziehen, intellektuell und ethisch. Die Absicht ist gut, aber undurchführbar. [ . . . ] Es ist nicht der Verlust der politischen Macht für unser Vaterland, der mich am meisten schmerzt, so wehe er mir thut. Schließlich müßte es zurückstehen, wenn es bessere Mittel gäbe, die Würde der Menschheit zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefste Erregung von diesen Dingen zu reden, ist die demütigende Ueberzeugung, daß wir es eigentlich nicht besser verdienen. Haben wir es verstanden, die Würde des Menschen zu wahren? Haben nicht seit mehr als einem Menschenalter alle Berufsklassen ihre politische Macht nur gebraucht, um sich wirtschaftliche Vorteile auf Kosten der andern zu verschaffen? [ . . . ] Haben wir das Grundgesetz aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Mensch Selbstzweck ist und nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? O, das ist es ja eben, daß die Nume in allem vollständig Recht haben, was sie lehren und an uns verachten, und daß wir doch als Menschen es nicht von ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener Arbeit. Und so ist es unser tragisches Schicksal, daß wir uns auflehnen müssen gegen das Gute! Und es ist das tragische Geschick der Nume, daß sie um des Guten willen schlecht werden müssen!“ (Bd. II, S. 273–275)
Die Freiheit wiegt am Ende mehr als die gute aufklärerische Absicht, und die Auflehnung gegen die Martier, die „um des Guten willen schlecht werden müssen“, wird sanktioniert. Der Leser wird Laßwitz hierin beipflichten, weil er kaum anders kann, als sich gegen die wahnwitzigen Repressalien der Martier zu empören. Die Lösung des Konflikts indes gelingt nicht durch eine ideale Macht des „sittlichen Willens“, sondern ganz handfest militärisch. Nachdem Saltner und die abtrünnige La ein Luftschiff der Martier in das noch unbesetzte Nordamerika gebracht haben, dient dieses als Blaupause für den heimlichen Bau einer Luftschiffflotte, mit der es dem Militär der USA gelingt, die Martier an den Polen zu besiegen und ihre dortigen Stationen einzunehmen. Das heißt, dass erst und ausschließlich der Ausgleich des technologischen Defizits der Menschheit den Sieg ermöglicht – eine simple Wahrheit.
Wieviel Wahrheit kann allerdings Laßwitz’ idealistischer Schluss für sich reklamieren, dass die Menschheit unter dem gemeinsam erfahrenen Druck der Diktatur und den bereits empfangenen Lehren der Martier sich in einem „Menschenbund“ zusammenfindet, der eine „Numenheit ohne Nume“ auf der Erde befördert? Dass sie am Ende den „Weltfrieden“ schließt und doch noch aus freiem, eigenen Antrieb heraus ihre eigene aufklärerische Besserung herbeiführt? Das ist unverkennbar nur eine utopische Wunschvorstellung und ein hastig herbeigeführtes Happy End. Denn – das scheint Laßwitz am Ende seines ohnehin schon zu lang geratenen Romans ganz bewusst zu ignorieren – plötzlich halten die US-Amerikaner als Einzige auf der Erde die Machtmittel der Martier in ihren Händen, und die unvermeidliche Konsequenz dieser Situation wäre wohl mit Sicherheit eine US-amerikanische Weltherrschaft und nicht die friedliche Verbrüderung aller Völker. Von der Einsicht, dass trotz aller repressiven Zwänge zur Besserung die intellektuelle und moralische Erziehung letzten Endes nur im Verein mit dem Willen des Schülers, seinem frei gewählten Entschluss heraus wirklich gelingen kann, rückt Laßwitz gleichwohl nicht ab. Er hat sich als frustrierter Gymnasiallehrer zu lang mit unwilligen Schülern herumgeschlagen, um diese Einsicht in Frage zu stellen.
UFOs über dem Kaiserreich: Laßwitz’ aufgeklärter Patriotismus
Kurd Laßwitz ist in politischer Hinsicht ein Radikalliberaler gewesen, der die konfrontative und leichtfertige Außenpolitik des Deutschen Kaiserreichs und die Duckmäuserei im wilhelminischen Obrigkeitsstaat verabscheute. Gelegentliche jüngere Versuche, ihm ganz im Gegenteil „Deutschtümelei“ zu unterstellen, nur weil die Figuren seines Romans Deutsche sind, die Heldenhaftes vollbringen, und Laßwitz häufiger die Begriffe „Vaterland“ und „Patriotismus“ verwendet, entblößen allenfalls das gespannte eigene Verhältnis der jeweiligen Autoren zu ihrer inzwischen durch die mörderische NS-Herrschaft belasteten Nation, entbehren jedoch im Roman jeder Grundlage. Die Heldenhafteste von Laßwitz’ Hauptpersonen zum Beispiel, Saltner, stammt, auch wenn er sich an einer Stelle explizit als Deutscher bezeichnet (Bd. II, S. 137), aus Südtirol. Tatsächlich setzt Laßwitz den überhitzten Patriotismus seiner Zeit an mehreren Stellen im Roman ätzender, satirischer, teils auch bitterer Kritik aus.
Bitter dann, wenn er – freilich auch ein Stück weit kulturchauvinistisch – den Halb-Martier Ell sagen lässt, dass er in Deutschland „den ganzen Jammer dieses wilden Geschlechtes kennen[lernte] an der Stelle, wo die höchste Zivilisation des Planeten sich zeigen soll“ (Bd. I, S. 333). Satirisch dagegen, wenn er die waffenstrotzende, stolze Armee des Reichs, die „schimmernde Wehr“ Kaiser Wilhelms II., eine unrühmliche und sich im Handumdrehen vollziehende Entwaffnung durch die Martier erleiden lässt. Die Martier haben einen gigantischen, fliegenden Elektromagneten entwickelt, der, als das Kaiserliche Heer unter den Augen des Monarchen vor den Toren Berlins zu einer großen Parade versammelt ist, den Soldaten alle Säbel, Lanzen und Karabiner aus den Händen reißt, um sie flugs darauf etwas abseits fallen zu lassen, wo sie von Luftschiffen mit Nihilitpanzern vernichtet werden (Bd. II, S. 278–286). Heroisch und wie in einem romantischen Schlachtengemälde lässt Laßwitz den Kaiser hoch zu Ross und mit gezogenem Degen sich in den eigenen Untergang stürzen, als er mit seinen Generälen und Adjutanten in einem Ring aus Nihilitpanzern eingekesselt ist:
Der Monarch blickte mit finsterem Ernst auf seine Umgebung, auf die feindlichen Schiffe und die betäubt oder tot am Boden liegenden Offiziere, um welche jetzt Ärzte und Krankenträger bemüht waren. Dann riß er den Degen aus der Scheide und rief:
„Meine Herren! Hier giebt es nur einen Weg – hindurch!“
Er spornte sein Pferd an. Seine Begleitung warf sich ihm entgegen und beschwor ihn, sich dem sichern Verderben nicht auszusetzen. Er wollte nicht hören.
„Nun denn“, rief da der greise General Dollig, „zuerst wir!“
Und einen Teil der Offiziere mit sich fortreißend, jagte er im Galopp gegen die unsichtbare Schranke, die sich nur durch eine Staubschicht über dem Boden verriet.
Sobald man bei den außerhalb des Ringes der Marsschiffe haltenden Schwadronen der Gardekürassiere die Bewegung in der Begleitung des Feldherrn wahrgenommen hatte, ließen sie sich nicht länger zurückhalten. Unter brausendem Hurrahrufe sprengten die glänzenden Reitermassen heran, um ihren Feldherrn aufzunehmen oder mit ihm unterzugehen. (Bd. II, S. 282f.)
Die martischen Luftschiffe weichen zurück und verhüten so die Vernichtung des Kaisers, der Offiziere und der Soldatenmassen, entwaffnen sie jedoch kurz darauf mit ihrem fliegenden Elektromagneten. Eine herrlich süffisante, hintergründige Satire, die den Kaiser ausnahmsweise einmal voller selbstlosem Heldenmut handeln und nicht nur, wie in der Realität, schwadronieren lässt. Wie die Geschichte später gezeigt hat, hätte Wilhelm II. sich sehr wahrscheinlich niemals so verhalten; nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war er der Erste, der die Armee einfach verließ und sich ins Ausland in Sicherheit brachte. Zeitgenössischen nationalchauvinistischen Kritikern war die Satire auch nicht entgangen: Sie ereiferten sich wütschäumend darüber, dass Laßwitz seine Majestät und die Armee in den Dreck ziehen würde.
All dies bedeutet jedoch nicht, dass Laßwitz nicht auch in gewissem Maße ein Patriot gewesen ist. Man darf bei der Lektüre nie vergessen, dass Begriffe wie „Patriotismus“ und „Vaterland“ damals völlig selbstverständlich und unbelastet waren, nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Entsprechend entspannt verwendet auch Laßwitz sie, hat nichtsdestotrotz jedoch, wie bereits gesagt, eine Abneigung gegen einen lautstarken und übersteigerten Nationalchauvinismus, hinter dem sich am Ende nur egoistische Interessen verschiedener Klassen und Klientel verbergen.
Durch mehrere Personen im Roman artikuliert Laßwitz seine „besonderen Ansichten über Patriotismus“ (Bd. I, S. 322). In der oben zitierten Rede Grunthes beispielsweise kamen sie zum Ausdruck, wenn Grunthe dem Vaterland den Zweck zuschreibt, „die Würde der Menschheit zu verwirklichen“. Der Halb-Martier Ell nennt den Nationalstaat „ein Mittel, die Macht des Einzelnen zusammenzufassen, um für die Menschheit zu wirken“ (Bd. II, S. 94). Und an anderer Stelle sagt er zu Isma:
„Die Sache ist doch so – Deutschland oder Frankreich oder England, irgend eine Nation oder ein Staat ist ja kein Selbstzweck; Selbstzweck kann nur die Menschheit als Ganzes sein. Die einzelnen Völker und Staaten sind Mittel, im gegenseitigen Wettbewerb die Idee der Menschheit zu erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen Erfolg nicht das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf die Idee der Menschheit, so wäre es unmoralisch, wenn ich als freie Persönlichkeit mich nur darum für ihn entschiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethische Forderung ist eine andere. Aber bei den Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entschieden, und das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß Neigung ist“ (Bd. I, S. 322f.)
Laßwitz rückt so die damals im öffentlichen Diskurs ständig präsenten Begriffe von „Vaterland“ und „Patriotismus“ in sein kantisch-aufgeklärtes Weltbild ein: Die Nation soll die Kultur der Menschheit, nicht etwa des einzelnen Volks, voranbringen, und er schließt nicht aus, dass sich der Nationalstaat eines Tages auch in Hinblick auf diese Aufgabe erübrigen könnte. Er ist ihm nichts Heiliges. Die fundamentalen Grundlagen des kulturellen Fortschritts sieht Laßwitz dabei vor allem in der Abschaffung aller materiellen Not, die Ell im Kapitel „Ideale“ (Bd. II, S. 86ff.) als Vision eines sozialen Kapitalismus ausmalt – und dabei realistischerweise auch zu bedenken gibt, dass die Leiden der Menschen nie völlig ausgemerzt werden können, da dieses utopische Hirngespinst der natürlichen Bewegung des Lebens widerspräche.
Kritisch fällt bei Laßwitz auch die Bewertung des machtpolitischen Kräftemessens der imperialistischen Großmächte aus. Der Autor stellt die Mechanismen dieses Kampfes überaus trefflich dar, die fatal an die Strukturen der Julikrise erinnern, die 17 Jahre später den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben: Nach der totalen Niederlage der englischen Flotte gegen die Martier bricht heftiger Streit über die Aufteilung des englischen Kolonialreichs aus, und es droht allenthalben ein Weltkrieg, den die Martier damit verhüten, dass sie ihr Protektorat über die gesamte Erde erklären und die staatliche Souveränität aller Mächte und Länder aufheben (vgl. Bd. II, S. 240–244).
Ein Vater ohne Kinder? Zum Einfluss von Laßwitz’ Auf zwei Planeten
Die Inspiration, die Auf zwei Planeten auf künftige Pioniere der Raketenraumfahrt ausübte, ist bereits thematisiert worden. Wernher von Braun war fasziniert von dem Roman und entnahm ihm seine eigenen Pläne ringförmiger Raumstationen. Andere namhafte Raketenpioniere, die von dem Roman angetan waren, waren Eugen Sänger (1905–1964) und Helmut von Zborowski (1905–1969); darüber hinaus bewegte der Roman den jungen Karl Stumpff (1895–1970) dazu, Astronom zu werden.
Aber auch auf die Literatur, und zwar sowohl auf die „triviale“ Science-Fiction als auch auf sperrig-avangardistische, „hochliterarische“ Texte – was bemerkenswert ist und für die hohe Qualität des Romans spricht –, hat Auf zwei Planeten nachweislich Einfluss ausgeübt, was in der Sekundärliteratur bislang jedoch eher marginalisiert wird. Franz Rottensteiner etwa hat in seinem Aufsatz Kurd Laßwitz und die deutsche Science Fiction (1987) festgestellt, dass Laßwitz, der schon so oft, sogar einst von Rottensteiner selbst, als „Pionier der deutschen Science-Fiction“ tituliert wurde, weitaus weniger Nachwirkung im Genre hatte als Hans Dominik (1872–1945), den Kurd Laßwitz zwei Jahre an seinem Gothaer Ernestinum-Gymnasium unterrichtete. Und Rudi Schweikert konstatiert pauschal und mit dem offenbar unvermeidlichen Seitenhieb gegen ästhetisch unwerte „triviale“ Literatur: „Hätte es [literarische Nachfolger von Laßwitz] gegeben, sähe das, was heute im deutschen Sprachraum unter ‚Science-Fiction‘ läuft, anders und besser aus“ (in Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman. Jubiläumsausgabe. Heyne 1998, S. 887).
Tatsächlich scheint der Einfluss von Auf zwei Planeten auf die deutschsprachige Science-Fiction noch unzureichend erforscht. Und doch kann Schweikert eine beachtliche Reihe von Romanen, Novellen, Heftromanen und Comics aus dem Bereich der fantastischen Literatur nachweisen, die sich auf Laßwitz’ populärstes Werk beziehen oder Motive aus ihm übernehmen (vgl. ebda. S. 887–893). Er nennt Carl Grunert, Der Marsspion und andere Novellen (1908), Emil Sandt, Das Lichtmeer (1912), Robert Kraft, Novacasas Abenteuer (1908/09), ders., Die Nihilit-Expedition (1909), Bertha Eckstein-Diener (alias Sir Galahad), Die Kegelschnitte Gottes (1921) und Carl A. Pfeiffer, Auf zwei Sternen. Roman aus dem Leben einer anderen Welt (1951). Auf dem Gebiet der Comics verzeichnet er interessante Einflüsse auf die Comicserie Nick, der Weltraumfahrer (ab 1958) von Hansrudi Wäscher (geb. 1928). In der Heftserie Perry Rhodan, der Erbe des Universums (ab 1961) sind nicht nur die Raumschiffe der Arkoniden kugelförmig wie bei Laßwitz; auch die Arkoniden selbst weisen in ihrer Erscheinung und ihrer Weisheit starke Ähnlichkeiten mit den Numen auf.
Und so drängt sich der Eindruck auf, dass Rudi Schweikert den springenden Punkt seiner Quellensammlung übersieht. Es mag schon sein, wie er sagt, dass die „schwärmerisch-flinken Lippenbekenntnisse“ (ebda., S. 887) von Autoren wie beispielsweise Carl Grunert oder Emil Sandt, die Kurd Laßwitz in höchsten Tönen lobten und ihn „turmhoch“ über Jules Verne stellen wollten, nicht dazu geführt hatten, dass sich Laßwitz’ Roman positiv auf die Qualität der Werke von Grunert, Sandt und anderen auswirkte. Aber, und das scheint mir das Entscheidende: Laßwitz’ Auf zwei Planeten hat alle von Schweikert aufgezählten Autoren wesentlich dazu inspiriert, überhaupt fantastische Erzählungen zu schreiben – und es ist unisono Laßwitz und nicht etwa irgend ein anderer deutscher Science-Fiction-Autor, der von ihnen explizit zum Vorbild erklärt wird. Die Frage nach der ästhetischen Qualität ist demgegenüber eine andere, unabhängig davon zu untersuchende; wobei es, nebenbei bemerkt, auch etwas naiv wirkt, von Laßwitz’ Nachfolgern dieselbe philosophisch-intellektuelle Durchdringung ihrer Werke zu erwarten, die Laßwitz seinem Roman angedeihen ließ. Dass Auf zwei Planeten gegenüber all den anderen deutschsprachigen fantastischen Romanen vor 1914, die heute fast alle längst vergessen sind, eine so hohe Wertschätzung genießt, ist eben auch ein starkes Indiz für seine imaginative Kraft und seine hohe intellektuelle wie literarische Qualität. Und wirkliche Qualität ist nicht nur in der Science-Fiction, sondern in jedem Genre eher die Ausnahme denn die Regel.
Im „hochliterarischen“ Bereich stellt Schweikert Einflüsse auf den Roman Cola-Hinterland (1969) von Jürgen Ploog fest und referiert ausführlich die zahlreichen Bezüge in den literarischen Arbeiten von Arno Schmidt (1914–1979), insbesondere in seinem Opus Magnum Zettel’s Traum (1970). Auch im Werk des expressionistischen Lyrikers Georg Heym (1887–1912) sind Spuren von der Lektüre von Laßwitz’ Auf zwei Planeten aufzufinden.
Science-Fiction de luxe aus dem Fin de siècle
Auf zwei Planeten ist ein wunderbarer, sprachlich und inhaltlich fein ziselierter Roman, der intellektuell höchst anregend ist und technologisch immer noch erstaunlich zeitgemäß wirkt. Gewiss steht er in der Roman-Tradition des 19. Jahrhunderts und hat demgemäß ein eher gediegenes Tempo, eine gewisse bürgerliche Behaglichkeit und einen Hang zur wortreichen Sprache – salopp könnte man Laßwitz in dieser Hinsicht auch einen „Fontane der Science-Fiction“ nennen. Heutige Leser reiben sich vor allem an dieser erzählerischen „Langatmigkeit“ und sprachlichen „Geschwätzigkeit“, wie sie es nennen. Beklagt wird darüber hinaus auch eine gewisse „Rührseligkeit“ in der Schilderung romantischer Beziehungen, ein für heutige Leser eher befremdliches Pathos und allgemein eine zu geringe Spannung. Gern wird der Roman dabei ein weiteres Mal an H. G. Wells’ The War of the Worlds gemessen, der einen deutlich geringeren Umfang und ein deutlich höheres Erzähltempo hat und damit heutigen Lesegewohnheiten viel eher entgegenkommt. The War of the Worlds, im Vergleich zu Auf zwei Planeten beinahe ein „Actionroman“, wird in diesem Vergleich fast immer der Vorzug gegeben. Sicherlich haben das Tempo und die knappe Sprache von War of the Worlds die weitere Popularisierung des Romans durch Hörspiele und Verfilmungen erheblich erleichtert, während es dagegen schwerfällt, sich eine Verfilmung von Auf zwei Planeten vorzustellen. Der Unterschied ist jedoch tiefgreifender, weil der Fokus beider Werke völlig verschieden ist. H. G. Wells, der gallige Satiriker und Kolporteur, erzählt eine rasante Invasionsgeschichte und schwelgt dabei in den furchtbaren Zerstörungen, die die Aliens auf der Erde anrichten. Kurd Laßwitz, der bildungsbürgerliche Humanist, unternimmt dagegen den Versuch eines aufklärerisch-didaktischen Experiments. Die Vielzahl der philosophischen Betrachtungen im Roman sind nicht Beiwerk, sondern gehören zum Kern des Buchs.
Meines Erachtens stehen beide Bücher in ihrem eigenen Recht und haben jeweils ihren eigenen Wert. Ich mag sie beide. Auch kann ich nicht die Meinung mancher Kritiker und Literaturwissenschaftler unterschreiben, die Laßwitz’ Auf zwei Planeten nur geringen ästhetischen Wert zugestehen wollen und dem Werk neben den oben bereits angesprochenen Kritikpunkten eine angeblich übermäßige Verwendung von Klischees vorwerfen. Sprachlich ist der Roman für meine Begriffe angenehm ausgefeilt und entwickelt trotz seines Umfangs einen schönen Fluss und aufgrund seiner vielen Wendungen und Spannungsmomente einen nie nachlassenden Schwung; die Dialoge sind trotz ihrer oft hohen Intellektualität lebendig, und die Figuren sind bis in die Nebenfiguren hinein sehr glaubwürdig und plastisch gezeichnet. Auch die fast ausufernde, opulente Fülle an Inhalten und Themen begeistert. Auf viele Themen, die sich in dem Roman finden, konnte ich im Rahmen dieser Besprechung nicht mehr eingehen: beispielsweise die freiheitliche Rolle der martischen Frau, der für Laßwitz’ Zeit typische ideale Kunstbegriff (der so universell vom Guten, Ewigen und Schönen ausgeht, dass er auch auf dem Mars gilt), oder das pikante und von Laßwitz interessanterweise stets vage gehandhabte Thema der martischen „freien Liebe“ – nicht etwa sexuell, sondern als „ästhetisches Spiel bewegter Gemüter“ (Bd. I, S. 162).
So ist Auf zwei Planeten für jeden Science-Fiction-Leser, der intellektuelle und philosophische Anreize liebt und auch historisch interessiert ist – und zwar über die Geschichte des Genres hinaus –, eine faszinierende Lektüre. Mir bot dieser Roman außerordentlichen literarischen Genuss, sodass ich ihn schon oft gelesen habe. Ein Meisterwerk!
© Michael Haul
Veröffentlicht auf Astron Alpha am 30. September 2017