Alexei Tolstoi: Geheimnisvolle Strahlen

Buchcover zum Roman "Geheimnisvolle Strahlen" (1925/1926) von Alexei Tolstoi, Aufbau Verlag 1982 (im Omnibus mit dem Roman "Aelita")

Гипepбoлоид инженера Γаpина (Giperboloid Inschenera Garina, 1925/26). Science-Fiction-Roman. Vorliegend ist deutsche, gebundene Ausgabe im Aufbau Verlag Berlin und Weimar (1982; im Omnibus mit Tolstois Roman Aëlita). Überset­zung von Anneliese Bauch. Mit einem Nachwort von Nyota Thun. 300 Seiten.

 

In einem abgelegenen Sommerhäuschen auf einer Insel bei Leningrad werden ein Ermordeter und die Überreste eines geheimen Forschungslabors aufgefunden. Der Kriminalbeamte Schelga kommt dahinter, dass in dem Labor ein Inge­nieur namens Garin eine Strahlenwaffe entwickelt hat, an der bereits Industrielle aus Amerika Interesse bekundet haben. Der Tote entpuppt sich als ein Doppelgänger Garins. Der echte Garin, der seine Erfindung offenbar für eigene Zwecke nutzen will, statt sie in den Dienst der Sowjetunion zu stellen, hat sich inzwischen nach Paris abgesetzt. Schel­ga reist Garin nach, um die Strahlenwaffe für die UdSSR zu retten.

 

In Paris tritt Garin mit dem amerikanischen Milliardär und Industriellen Rolling in Kontakt, der gerade die Übernahme der gesamten westeuropäischen Chemie-Industrie plant. Scheinbar will Garin mit Rolling über die Strahlenwaffe ins Geschäft kommen. Rolling indes beauftragt zwielichtige russische Emigranten, die Strahlenwaffe und die dazugehöri­gen Konstruktionspläne von Garin zu rauben. Als Rollings Pläne fehlschlagen, wird Rollings selbstbewusste Mätresse Zoé Montrose aktiv: Sie setzt einen Killer auf Garin an. Garin erweist sich jedoch erneut als gerissener – der Mordver­such scheitert.

 

Die Dinge nehmen einen unvorhergesehenen Verlauf, als Zoé persönlich auf Garin trifft und ihre Chance erkennt, durch ihn zu noch größerer Macht zu gelangen als an der Seite Rollings. Sie schlägt sich auf Garins Seite. Durch Zoé gelingt es Garin, Rolling und dessen Milliarden ganz unter seine Kontrolle zu bringen. Endlich kann Garin seine eigent­lichen kühnen Ziele in die Tat umsetzen: Der Ingenieur will mittels seiner neuen Superwaffe nichts Geringeres als die Weltherrschaft erzwingen. Verschanzt auf einer geheimen Südseeinsel, plant er die Übernahme der politischen Macht in den USA. In Garins kommender Diktatur sollen dann bis auf eine auserwählte kleine Elite alle Menschen zu Arbeits­sklaven gemacht werden, die von Gehirnimplantaten ferngesteuert werden . . .

 

Schreckvision eines Bolschewisten: Ein Faschist mit einer „Wunderwaffe“

 

Mit Aëlita (1922/23) schuf der ursprünglich bourgeoise, später zum linientreuen Stalinisten gewandelte russische Schriftsteller Alexei Tolstoi (1882–1945) einen groß­artigen Science-Fiction-Roman, der aufgrund seiner Poesie und hin­tergrün­digen Vielschichtigkeit als ein Klassiker des Genres einzustufen ist. Geheimnisvolle Strahlen ist der zweite und letzte Science-Fiction-Roman Tolstois. Danach wandte sich Tolstoi wieder anderen Genres zu, wenngleich er in zahlrei­chen Märchen­erzählungen seine Affinität zu fantastischen Stoffen beibehielt.

 

Aëlita hatte die vordergründige Bejahung der russischen Revolution wie ein Gewand übergestreift, um seinem im deutschen Exil lebenden Autor die Rückkehr in die sowjetische Heimat zu ermöglichen. Zwischen den Zeilen war allerdings der alte, „bürgerliche“ Tolstoi noch deutlich spürbar geblieben. Gerade die politische Doppel­bödigkeit des Romans und die interpretatorischen Widersprüche tragen erheblich zum Reiz von Aëlita bei. Geheimnisvolle Strahlen ist politisch wesentlich entschlossener – Tolstoi, 1923 in die Sowjetunion zurückgekehrt, hatte nun ohne Abstriche die literaturpolitische Doktrin der Bolschewisten verinnerlicht. Die Front­linie im Roman ist klar definiert: Die technokrati­sche Diktatur des Großkapitalismus’ ist die Bedrohung – und Rettung verspricht allein die kommu­nistische Revolution. Schauplatz des Romans ist nicht mehr ein fantasierter, entrückter Ort wie der Mars, sondern die reale, zeitgenössische Erde.

 

Der russische Ingenieur Garin ist ein Erfinder, der sein überragendes Genie nutzt, um seinen größenwahnsinnigen Traum von unumschränkter Macht zu erfüllen. Durch seine Strahlenwaffe wird Garin unbezwingbar. Überdies ist die Strahlenwaffe das Werkzeug, mit dem Garin auf einer von ihm besetzten Südsee­insel in einem gigantischen Bergbau­projekt in tiefste Erdschichten vordringt und riesige Mengen Gold abbaut. Nachdem Garin den amerikanischen Markt mit seinem Gold überschwemmt und so das Weltwirtschaftsgefüge aus den Angeln gehoben hat, erfolgt der Zusam­menbruch des Wohlstands und der Demokratie in den USA. Daraufhin gelingt es Garin, in Washington von den ver­zweifelten Volksmassen zum Diktator erhoben zu werden. Doch Garin will noch mehr. Als künfiger Herrscher über die gesamte Welt will er eine gespenstische Gesellschaftsform durchsetzen, in dem eine kleine, in Luxus und Kultur schwel­gen­de Elite den Rest der Menschheit versklavt – mittels Gehirnimplantaten, die das Bewusstsein steuern.

 

In der Figur Garins greift Tolstoi den Faschismus auf, der Mitte der Zwanzigerjahre in Europa einen wachsenden, be­ängstigenden Zuspruch fand. Tolstoi malt in seinem Roman aus, wie der diktatorische Weltherrschaftstraum eines Ein­zelnen gelingen könnte – und welche furchtbare Folgen das für die breite Masse der Weltbevölkerung mit sich bräch­te. Es verwundert nicht, dass Tolstoi die späteren, alle Vorstellungskraft sprengenden Gräuel der bevorstehenden Naziherr­schaft in Europa nicht vorherzusagen vermochte. Gewiss erfasst er vorgreifend einige wesentliche Züge des faschistischen Diktators: Seine Brutalität, die auch vor Massenmord nicht zurückschreckt; sein nüchternes Kalkül, das Großkapital für seine persönlichen Machtinteressen zu instrumentalisieren; seine von allen Gegen­spielern unterschätz­te Gerissenheit und Kompromisslosigkeit; sein manipulativer Weg zur demokratisch legitimierten, diktatorischen Macht. Die elementaren Säulen der faschistischen Macht werden durchaus richtig erkannt. Doch die nur auf ganz wenige Personen und Handlungen begrenzte Art und Weise, in der Tolstoi Garins Aufstieg zur Macht schildert, wirkt aus heutiger Sicht, nach der Erfahrung des Naziterrors, der die Gesellschaft tief durchdrungen und zahlreiche Täter und Millionen stumme Dulder hatte, naiv und unrealistisch.

 

Die Weltrevolution als Actionthriller

 

Im Prinzip ist Geheimnisvolle Strahlen ein Agentenroman, wenn auch kein einziger Agent in ihm vorkommt. Er enthält fast alle Versatzstücke eines typischen James-Bond-Abenteuers: Es gibt einen Mord, einen Polizisten, der den Mord aufklären will, zahlreiche Informanten; einen reichen Magnaten, der sich im luxusschwelgenden Jet Set bewegt; eine schöne, geheimnisvolle und selbstsüchtige femme fatale; internationale Verwicklungen; über die ganze Welt verstreu­te Schauplätze; schließlich den verrückten Wissenschaftler mit einer noch nie dagewesenen Superwaffe, der Ambitio­nen auf die Weltherrschaft hegt. Bei Tolstoi gibt es jedoch keinen geheimdienstlichen Superhelden, der dem Böse­wicht auf Augenhöhe entgegentritt. Auch militärisch ist Garin nicht beizukommen, da seine Strahlenwaffe allen ande­ren Waffen überlegen ist. Erst als der Polizist Schelga, ein patriotischer Russe, auf Garins Goldinsel den Aufstand der Arbeiter organisiert, einige Strahlengeschütze erobert, per Funk die Arbeitermassen mobilisiert – vor allem in den USA – und so die kommunistische Weltrevolution lostritt, wird Garins Macht gebrochen.

 

Als eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit dem Problem des aufkommenden Faschismus ist Tolstois Roman zu sehr eine unterhaltsame, fantastische Räuberpistole, die an vielen Stellen an naive Pulp Fiction oder frühe Comics erinnert und mit zahlreichen Unglaubwürdigkeiten belastet ist. Die schlichte Art und Weise, wie Garin sich die Kontrol­le über Rollings Milliarden beschafft (er entführt Rolling und bedroht ihn mit dem Tode); die militärische Ohnmacht gegen Garins Südseeinsel, die allein von Garins Strahlengeschützen verteidigt wird (nicht einmal der Abwurf von Gift­gasbomben auf die Insel oder schwerer Artilleriebeschuss wollen gelingen); die problemlose, rasche Ernennung Garins zum Diktator in Washington, nachdem das Weltwirtschaftsgefüge zerrüttet wurde (hier blendet Tolstoi z. B. den Ein­fluss der Washingtoner Machteliten und auch die lange demokratische Tradition Amerikas vollkommen aus); schließ­lich das reibungslose Entflammen der Weltrevolution durch ein paar Funksprüche (ginge es so einfach, wäre es dann der Sowjetunion auf diesem Wege nicht längst gelungen?) – all das wirkt konstruiert und unwahrscheinlich, wodurch Tolstois Zukunftsvision der Schrecken genommen wird.

 

Der Roman liest sich durchaus spannend, wenn er auch nicht frei von Längen und überflüssigen Handlungsfäden und Verquickungen ist – eine straffere Organisation des Exposés hätte ihm gewiss gut getan. Sprachlich beweist Tolstoi seine gewohnt herausragenden Qualitäten. Er ist ein Meister im Charakterisieren von Personen, Szenerien, Abläufen; mit zumeist wenigen Worten gelingt ihm Seite für Seite in jedem Detail eine wunderbare Prägnanz. Rhetorisch unter­haltsam ist auch Tolstois messerscharfe Polemik, sein beißender Spott, den er vornehmlich gegen gierige, gewissen­lose Kapitalisten richtet, denen die Kulturgüter der untergegangenen klassischen und bürgerlichen Zeitalter nur noch als Staffage für ihre oberflächliche Prunksucht dienen. Da sitzt jeder sprachliche Pfeil, auch wenn man nicht jedes Vor­urteil unterschreiben will. Der Roman enthält mehr noch als Aëlita zahlreiche Bezüge auf historische und zeitgenössi­sche Begebenheiten, die die vordergründige Handlung kommentieren, ihr mehr Tiefe verleihen und das Lesevergnü­gen erheblich steigern. Ab Kapitel 45 (S. 271 ff.), wo Berlin und der Rhein bei Köln zu Schauplätzen des Geschehens werden, beleuchtet Tolstoi auch Deutschland und seine psychologischen Befindlichkeiten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Tolstoi gelingen auch hier treffliche Szenen und Retrospektiven. So ist es z. B. fabelhaft, wie Tolstoi eine kleine Schachspielszene in der Wohnung eines Berliner Professors zum Anknüpfungspunkt macht, um in nur zwei Ab­sätzen die gesamte Geschichte vom Aufstieg und Fall des Deutschen Kaiserreichs Revue passieren zu lassen (S. 272).

 

Geheimnisvolle Strahlen wurde Jahrzehnte später verfilmt: Alexander Ginzburg (1907–1972) blieb Tolstois literarischer Vorlage treu und inszenierte seinen Film Giperboloid Inschenera Garina („Der Hyperboloid des Ingenieur Garin“, 1965) als routiniertes Spionage-Abenteuer. Von diesem Film ist dankenswerterweise eine russische DVD mit englischen Un­tertiteln erschienen. Bisweilen stößt man in Kritiken auf die Behauptung, dass auch der Film Lutsch Smerti („Der Todes­strahl“, 1925) von Lew Kuleschow (1899–1970) eine Adaption von Alexei Tolstois Roman sei. Wenn dies auch chronolo­gisch möglich ist – beide Werke erschienen praktisch gleichzeitig –, so ergeben sich inhaltlich doch so enorme Diskre­panzen, dass ein Einfluss von Geheimnisvolle Strahlen auf Lutsch Smerti auszuschließen ist. Tolstoi und Kuleschow waren in den Zwanzigerjahren nicht die einzigen, die ungewöhnliche „Todesstrahlen“ oder Strahlen mit fantastischen Auswirkungen thematisierten – in der Pulp-Literatur figurierte dieses Thema häufig, sowohl im Westen als auch im Osten. Janne Wass verweist auf seiner Webseite Scifist 2.0 auf eine abenteuerliche Detektivgeschichte von Valentin Katajew (1897–1986), in der es um einen „Magnetisierungsstrahl“ geht, die für Lutsch Smerti als Inspiration gedient haben könnte. Tolstoi hingegen verfasste seinen Roman in erster Linie nach dem Theaterstück Aufruhr der Maschinen, einer Adaption von Karel Čapeks Stück R.U.R., sowie nach seiner Erzählung Bund der Fünf. Es ist allerdins möglich, dass er auch von anderen Abenteuergeschichten inspiriert war, womöglich sogar von Valentin Katajews Erzählung.

 

Spannend, literarisch ansprechend, aber inhaltlich unglaubwürdig und von der bitteren Geschichte des Faschismus längst überholt – so lässt sich Geheimnisvolle Strahlen charakterisieren. Der Roman ist als abenteuerliche Fabel durch­aus lesenswert – aber reicht nicht an Tolstois fantastischeren und poetischeren Roman Aëlita heran.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 29. Mai 2019